Eine Rezension des „Heimweh“-Romans aus dem Jahr 1796

 
Sie unterstellt Jung-Stilling, einen Jerusalems-Orden stiften zu wollen, was Jung-Stilling jedoch verneint.
Siehe auch:
  • Schippan, Michael: Zwei Romane Jung-Stillings in Russland ("Theobald oder die Schwärmer" und "Das Heimweh"). Siegen: J. G. Herder-Bibliothek e. V. 2000 = Schriften der J. G. Herder-Bibliothek Siegerland e. V. Bd. 33 , S. 60 f.

Dazu gehört die Vorgeschichte, die vielleicht auch den Besuch erklärt, von dem Jung-Stilling berichtet::

„im Frühjahr 1796, kam ein junger schöner Mann in einem grünen seiden-plüschenen Kleide, schönen Stauchen und seidenen Regenschirm nach Ockershausen in Stillings Haus:“ (Siehe detailliert hier.) 

 

Christian Friedrich von Blanckenburg (1744-1796) schreibt (nach Sigrid Habersaat) am 1795-07-06 aus Leipzig an Friedrich Nicolai in Berlin, diesen auf einen Zeitschriftenaufsatz aufmerksam machend: „Wenn Jung diesen Aufsatz nicht geschrieben hat, u. das Ding nicht blos fictiv ist, so ist dieser gewis der darin genannte Vicarius der Maurer a priori in Deutschland.“

Im Januar war nämlich der Aufsatz „Kurze Geschichte und Generalregeln des in Nordamerika, England, Holland und Russland entstandenen und mit großem Erfolg bestehenden Jerusalemordens, oder des Freimaurer=Ordens a priori.“ erschienen.

Im März meinte ein Rezensent: Der Aufsatz ist „Unterhaltend genug, für denjenigen, der an dem Detail solcher Dinge noch jetzt großes Behagen finden kann.“ Ein anderer Rezensent meinte im Oktober: „Als ein Uneingeweyhter unterstehet sich Rec. nicht, über das hier aufgedeckte Geheimniß zu urtheilen, oder die [grch.: …] dieser Ordensregeln nachzuschreiben, ausser etwa, daß der Heermeister Jesus Christus, und der Kraftgeber zum Arbeiten, der dreyeinige Gott ist; daß die Brüder unbedingten Gehorsam gegen ihre Obern geloben, und sich aller Fragen über Verwendung ihrer Beyträge enthalten müssen. Der Ordensregeln sind 64.“

 

In dieser Darstellung heißt es zu

„§. 14.

Vom Großmeister.

Der Großmeister ist unter den Menschen der Oberste des ganzen Ordens. Er muß allezeit bei der Mutterloge wohnen, und hat in Deutschland, Holland, England und Nordamerika einen Vicarius. Er hat die höchste menschliche Vollkommenheit durch alle Grade erreicht, und hat die schwersten Pflichten auf sich. Niemand kann Grosmeister werden, als der dazu geschickteste Meister *).

In der Anm. heißt es u. a.: „In Deutschland ist erst seit diesem (1793) Jahre ein Vicarius angestellt. Man hat da wegen Aufsteigung des 2ten Thiers, das schon 3 Theile der deutschen Nation gefangen hat, [S. 110:] nicht viel Aussicht. Man richtet auch kein Augenmerk sehr dahin. Wir suchen niemand allda. Wer kommt, kommt selbst.“

Der Vicarius wird dann S. 114 noch einmal genannt. Er kennt den Adressaten in Jerusalem.

 

1798 schreibt Konsistorialrat Heinrich Philipp Konrad Henke in Braunschweig in einem Aufsatz: „verschiedene Vorstellungen des Stillings in seinem Heimweh, manche seiner Ahndungen, vielleicht dem Herrn Hofrath Jung unwissend, bereits realisirt.“

 

1801 erschien dazu der mit „Y.“ unterzeichnete Aufsatz „Der apokalyptische Schullehrer.“

 

Siehe Jung-Stillings Brief vom 1796-06-12; Edition Schwinge S. 183 f.; danach dürfte ebd. S. 186, Anm. 3 zu ändern sein, denn mit den Berlinern ist, wie der Brieftext zeigt, sicherlich dieser Aufsatz gemeint.

 

Bemerkenswert sind auch die Verweise zu Bunyan.

Joseph Matthias Hägele, Pseudonym: Grünwald, Zizenhausen (Bodensee) 24.02.1823, gest. Freiburg 1892 (vor -06-26; Schriftsteller, Philosoph, Philologe, Lehrer und Publizist. [Landshuter Zeitung, 44. Jg. 1892, Nr. 143 v. So 1892-06-26, S. 1, Sp. 1: „in Freiburg im Breisgau, allwo der selige Hägele sein Leben ausgehaucht“; Joseph Kürschner: Deutscher Litteratur-Kalender auf das Jahr 1892, Sp. 356; 1893, Sp. 71 (vor 1892-10-01). Hägele schreibt in Wetzer und Welte's Kirchenlexikon oder Encyklopädie der katholischen Theologie und ihrer Hilfswissenschaften. 2. Auflage. [Freiburg im Breisgau 1882-1903] in Bd. 6, Freiburg: Herder1889, Sp. 1366-1371 ausführlich über den Jerusalemsorden, die Jerusalemsfreunde.

  

Nun aber der Text der genannten Heimweh-Rezension:

 

43
==
5.
Noch eine neue Geheime Gesellschaft,
genannt: Die Freimaurerei a priori,
oder der Jerusalemsorden.
--
316
==
3.
Noch ein neuer Jerusalemsorden.
Hr. Professor Jung in Marburg – oder, wie
er sich lieber nennt, Stilling; unter welchem
Namen seine „Jugend,“ „Jünglingsjahre,“
und „Wanderschaft,“ von ihm in eigenen Bio=
graphien voll mystischer Gefühlsphilosophie und
sinnlicher Religionsbegriffe beschrieben sind –
hat in derselben Manier neulich ein dickes Buch
herausgegeben, das Heimweh betitelt?). Ein
seltsames Produkt, worin fingirte Begebenheiten
und wahre Namen bekannter Orte so durch ein=
ander laufen, wo allegorische Wesen zwischen
Personen der wirklichen Welt nicht mehr weiß was man
liest. Man fragt sich nicht bloß: Ist dies wirk=
lich geschehen? sondern auch: Kann es geschehen?
Aber meistens muß man sich die Antwort hierauf
schuldig bleiben. Jede Komposizion, und wäre
      es
*) „Das Heimweh, von Heinrich Stilling. Frankf.
„und Leipzig. Erster Band, Zweiter Band, 1794-
„Dritter Band, 1795.“ In Oktav. Der Vierte
Band soll nächstens erscheinen.
      317
==
es auch nur ein Feenmährchen, sollte doch einen
bestimmten Charakter haben. Wenn man aber
bald in lauter übersinnlichen Regionen weilt, und
dann plötzlich sich unter die Phänomena der Er=
denwelt wieder versetzt sieht; wenn und allego=
rich geschildert werden soll wie die Vorsehung
einen Christen durch das Leben leitet, und wir
nun lesen wie sie ihm aus dem Rothen Hause zu
Frankfurt am Main, in welchem Gasthof er sich
sehr unbesonnen ohne Geld einquartiert hatte,
erst noch zum Anhören eines Konzerts ohne Ein=
laßbillet und dann ganz heraus hilft: so verlieren
wir den Plan des Werkes, und suchen umsonst
nach dem Zweck des Verfassers. Wenn anders,
bei seiner überspannten Imagination, ihm ein
bestimmter Plan und Zweck vorschwebt, und er
nicht vielmehr ganz ehrliche Wirklichkeit und Phan=
tasie in seinem Kopfe so gepaart beherbergt, wie
sie hierin seinem Buche erscheinen. Daß er
nicht nur eine ganz spezielle, sondern im eigent=
lichen Sinne wunderbare Leitung der Vorsehung
in allen noch so unbedeutenden Fällen seiner Le=
bens, daß er bei den simpelsten Antrieben auch der
natürlichsten Bedürfnisse (z. N. des Hungers,
des Verlangens nach einem Obdach, u. s. w.)
eine ihm sodann gewordene göttliche Stimme oder
            Offen=
 
318
==
Offenbarung annimmt: geht aus seinen anderen
Stillingsbüchern hervor. Wahrscheinlich ist ihm
also auch hier die Allegorie, wenigstens ein großer
Theil derselben, historisches Faktum.
 
Das Heimweh soll die Sehnsucht des Chri=
sten nach jener bessern Welt, nach seinem eigent=
lichen Vaterlande bedeuten. Dieses liegt im
Orient, wo der große Monarch thronet. Allein,
nun ist dieses wieder kein bildlicher Ausdruck, son=
dern wir hören von dem wirklichen Morgenlande
in Asien, wohin der Weg über Frankfurt,
München, Wien, Ungarn, Konstantinopel,
Smyrna, u. s. w. geht. Welche Schätze wirk=
lich noch in Jerusalem unter den Höhlen des
Tempelberges (wovon auch Michaelis schrieb)
liegen, weiß Hr Heinrich Stilling sehr genau;
auch, zu welchem großen künftigen Endzwecke sie
dort aufbewahrt sind, und bekräftiget es mit einem
harten Trumpfe gegen die welche hieran zweifeln
würden.
 
Im Ganzen gleicht das Werk der bekannten
„Reise nach der Ewigkeit“ des Engländers
Bunyan *). Bei der itzigen Stufe der Kultur,
            hätte
 
*) „The Pilgrim’s progress.“ Das Buch des ehr=
lichen, aber schwärmerischen, ehemaligen Kessel=
            flickers
      319
==
hätte man aber wohl eine andere Ausführung er=
warten sollen. So kommen, um nur dies eine
anzumerken, bei den Widerwärtigkeiten und An=
fechtungen, wodurch der in der That sehr ein=
fältige Mensch (welcher der Held dieser Erzäh=
lung ist) geprüft werden soll ehe er – höchst
unverdienterweise – sie fürstliche Würde und Re=
gierung erhält, lauter leibliche Anlockungen und
Gefahren vor, nirgend aber eigentliche Seelen=
leiden. Er hat Reize zum sinnlichen Vergnügen
u. s. w. zu besiegen; er erduldet Mangel, Ge=
fangenschaft, Beschwerlichkeiten; er wird in die
            Hand
 
flickers ist in alle Sprachen übersetzt, und zu allen
Europäischen Nationen, ja selbst noch andern
Welttheilen gekommen. Eben itzt beschäftigt sich
die Kupferstecherkunst in London mit einer sau=
bern und theuren Folge von heftweise erscheinen=
den Blättern über dieses Buch des vorigen Jahr=
hunderet. – In diesem Augenblick sehe ich aus
der (deutscsh geschriebenen) Nordamerikanischen
Zeitung, „Philadelphische Korrespondenz:“ daß
zu „Samuel Saurs neuem Hochdeutshen Ame=
„rikanischen Kalender auf das J. 1796“ auch Bu=
nyan Beiträge hat liefern müssen. Der Kalender
enthält, „Nr. 6: Eine neue Karte und sinnliche
„Abbildung von der engen Pforte und dem schma=
            „len
320
==
Hand seiner Feinde gegeben, welche ihn freilich
arg genug mit Püffen und Hungerquaal zusetzen.
Aber theils weiß er ganz zuverlässig daß die große
(völlig ohne sein Verdienst) für ihn in Bewegung
gesetzte Maschinerie der Hülfs= und Schutzgeister
immer ihn umschwebt, wie sie denn auch zurech=
ter Zeit durch wahre Theatercoups ihn zu befreien
nie ermangeln; theils würde es weit interessanter
und dabei auch lehrreicher gewesen sein, wenn
er in Lagen wäre versetzt worden, wo nicht bloß
            Wasser
 
„len Wege der zum Leben führt, u. s. w.; und
„Nr. 7: Weitläuftige Erklärung, was alle Figu=
„ren die in erwähnter Karte vorkommen, jedes=
„mal bedeuten.“ Diese Artikel stehen mitten zwi=
schen dem bekannten Mährchen: der Kaiser und
der Abt, dem merkwürdigen Lebenslauf des in
Preußen getauften Juden Joh. Christph. Leberecht,
und der Nachricht vom Aderlassen und Schröpfen,
inne. Auch kündigt die Saur= und Jonessche Buch=
handlung noch an: „Der heilig Krieg, wie der=
„selbe geführt wird von Christo Jesu dem Ewigen
„und Allmächtigen König, wider den Teufel den
„Fürsten der Finsterniß, um und über die mensch=
liche Seele; beschrieben von Johann Bunyan.“
– – Vielleicht erbauen sich im 20ten Jahrhun=
der die Kolonisten in Neuholland auch an dem
Heimweh unsers Bunyan=Stilling.
      321
==
Wasser und Kälte, sondern Gedanken und Ent=
schlüsse, Plane des Verstandes gegen Stimme
des Gewissens, innere Bewegungen des Ge=
müths, kollidirende Pflichten, Kämpfe über
Recht und Unrecht, ihn bestürmt hätten. Das
Wenige was der Verfasser von dergleichen Din=
gen angebracht hat, ist äußerst schwach und un=
bedeutend.
 
Bei der Dürftigkeit der Anlage und der Aus=
führung, ist dennoch aber eine gewisse, zuweilen
sich zur Belebung erhebende, Wärme des Stoffes
hin und wieder nicht zu verkennen, welche auch
sicherlich dem Buche Leser und Anhänger verschaf=
fen wird, so wie sie Bunyan immer gefunden
hat und noch findet. Das wichtigste Interesse
der Menschheit beruht auf übersinnlichen Ideen.
Wer die Menschen hiebei zu fassen weiß, wird
seinen Zweck nie ganz verfehlen, so verkehrt und
ungereimt er sich auch dabei benehmen mag.
Selbst Personen welche in der Kultur des Ge=
schmacks und des Verstandes Fortschritte gemacht
haben, sind nicht selten in der Kultur der Ver=
nunft noch so weit zurück, daß sie hier nicht das
Falsche vom Wahren, das Schwärmerische vom
Erhabenen, das Lächerliche vom Edlen zu unter=
scheiden wissen. Ein Mensch welcher sich von
            dem
322
==
dem Bedürfniß einer höheren Idee s innig durch=
drungen fühlt, daß er demselben alles Andere auf=
opfert (und so ist der Held dieser Geschichte),
wird immer Interesse und sogar Achtung erwecken,
wie albern er auch selbst, und wie grotesk die
Idee sei welcher er nachläuft. Hier eben ver=
dient der Verfasser aber die stärkste Rüge. Er
hat erbärmliche Thorheiten, welche längst bei
Seite gestellt waren, mit dem was den meisten
Lesern wichtig ist, so in Zusammenhang gebracht,
daß mancher schwache Kopf sie auf lange Zeit
nicht wieder wird zu sondern wissen; er hat ge=
gen edle Menschen sowohl früherer als itzigr Zeit,
welche der Wahrheit und der Vernunft große
Dienste leisteten, sich Wendungen und Ausdrücke
erlaubt welche an Verläumdung gränzen.
 
Unter den Feinden gegen das Reich Gottes,
welches durch den Helden des Heimwehs wieder
hergestellt werden soll, spielt die Frau von
Traun eine sehr thätige Rolle. Die versetzten
Buchstaben sind leicht zu entzifern: sie bedeuten
Natur. Aber falsch und schädlich zugleich ist
es, daß diese Frau von Traun gerade „auf Bile=
nitz“ (Leibnitz) wohnt. Auch der orthodoxeste
Deutsche sollte doch Scheu tragen diesen großen
Mann, den Stolz unsrer Nazion, durch ein elen=
            des
      232
==
des Anagramm zu beschuldigen, als habe er die
Naturwissenschaft befördert um der Religion Ab=
bruch zu thun.
 
Wer so kurz über einen Leibnitz den Stab
bricht, kann mit andern Leuten wohl leichter der=
tig werden. Hr Heinrich Stilling versichert,
das Christenthum leide itzt in Deutschland große
Noth; und er läßt es dabei nicht an Winken feh=
len, um den frommen Pöbel gegen alle Menschen
aufzuhetzen welche nicht denken wie Hr Heinrich
Stilling. – Doch ich schreibe keine Rezension
seines Buches. Mir ist es hier nur darum zu
thun, der Überschrift meines Aufsatzes gemäß,
den Lesern Nachricht von einem Umstande zu geben,
welcher nicht etwa gelegentlich in diesem „Heim=
„weh“ vorkömmt, sondern den Hauptfaden des
Ganzen ausmacht, und worauf sich Alles: Ge=
schichte, Charakter, Einkleidung, Räsonnement,
Moral des Buches bezieht. Was schlägt nehm=
lich Hr Heinr. Stilling vor, um dem (wie er
sagt) nothleidenden Christenthume aufzuhelfen?
Was stellt er den Lesern dar, damit sie das Chri=
stenthum daraus recht kennen lernen, und ihm
treu anzuhangen sich entschließen sollen? . . .
Sollte man es glauben! Einen neuen geheimen
Orden, eine neue geheime Gesellschaft!!
B. Monatsschr. XXVII B. 4 St. X     Die
324
==
Die Christen machen in diesem Buche eine
Geheime Gesellschaft aus: so eingerichtet, so
regiert, so mit Alfanzereien überladen, so durch
Marktschreierkünste empfohlen, wie es nur immer
die übelst berüchtigte aller neuen Geheimen Ge=
sellschaften sein kann. Die Zeremonien bei der
Ordensaufnahme sind seltsam und beschwerlich;
der Stufen sind, wie in jedem Orden, mehrere:
die Brüder haben, nach ihren Graden, verschied=
ne Benennungen. Erst lernen wir sie unter dem
Namen der Gesalbten kennen, die Eingeweihten,
die Priester, die Felsenmänner, die Fürsten.
Das Oberhaupt ist der „Allerhöchste Monarch,“
und dessen „Kronprinz;“ beide, wie es scheint,
unsichtbar: der Held glaubte, als er einst im
Pallast der Monarchen war, denselben auf einen
Augenblick im Spiegel (!), nach vorgängigem
Donner und Blitz, gesehen zu haben; man sagte
ihm aber hernach, es sei nur dessen Statthalter
und Vetter gewesen. – Die älteren Brüder
und Ordensmeister verfahren mit den jüngern sehr
despotisch; das Räsonniren ist verboten, nur
Schweigen und blinder Gehorsam ist Pflicht.
Die Reisen und Prüfungen sind wohl in keinem
andern Orden so langweilig; die wichtigsten gehen
            in
      325
==
in den Ägyptischen Pyramiden vor, fast so wie
man sie in dem bekannten Freimaurerroman Se=
thos liest: nur viel läppischer, mit dem Erra=
then der geheimen Zeichen, dem bergwerksmäßi=
gen Auf= und Niederfahren, dem Kettengerassel,
dem Begießen mit kaltem Wasser, dem Herum=
tappen im Finstern, dem Kriechen in Höhlen und
Löcher, den Schrecknissen von gemaltem Feuer.
 
Dafür sind aber auch die Weisen, welche
so gefroren und gezappelt haben, ganz außeror=
dentliche Wesen. Sie reisen unaufhörlich umher:
sie gehen zwar in die Wirtshäuser, und essen
und trinken wie wir; aber mit Einem Blicke kön=
nen sie jeden Menschen zu Boden schlagen. Der
gemeine Mann (z. B. des Helden ehrlicher Reit=
knecht, welcher hernach selbst Kreuzritter wird)
hält sie für Gespenster, oder gar für Teufel.
Und in der That, etwas Spukerei scheint bei der
Sache zu sein. Sie können alle Europäische und
Asiatische Sprachen reden, sind in allen Wissen=
schaften und Künsten bewandert, haben Geld so=
viel sie nur ausgeben wollen. Sie sind beinahe
allwissend, doch halten sie auch allenthalben Emis=
sarien. Wenn sie plötzlich hervortreten, erschei=
nen sie fast allmächtig; doch benutzen sie dazu auch
sher ihre ausgebreiteten Verbindungen. Sie
      X 2   wissen
326
==
wissen alles Gute und alles Schlechte von jedem
Menschen; das Letzte brauchen sie nicht nachlässig,
um ihre Feinde niederzudonnern und an den Gal=
gen zu bringen. Sie stehen mit allen Bewoh=
nern der Erde, mit Inden und Türken, in gro=
ßem Verkehr, und sind äußerst thätig im Beför=
dern ihrer Anhänger, im Wirken auf politische
und andre Begebenheiten.
 
erkennt ein Christ in dieser Geheimen Ge=
sellschaft das Christenthum? in diesen überirdischen
geisterähnlichen Gestalten seine Mitchristen?
Sieht er hier den Zweifel seiner Religion? oder
ein Ideal dessen was ere selbst hier auf Erden sein
soll? Gewiß nicht! Eine Schilderung der Christ=
lichen Religion, als solcher, kann hier unmög=
lich gemeint sein. Dazu ist Hr Heinrich Stil=
ling auch selbst ein zu guter Christ. – Was
also trägt er in seinem Buche vor? Eine neue
Geheime Gesellschaft unter den Christen, welche
große Plane durchsetzen soll, und welche hier mit
begeisterter Liebe, mit leidenschaftlicher Bedeutsam=
keit ausgemalt ist. Wenn man überhaupt Sinn in
diesem Buche annehmen kann, und das muß man
doch wohl bei einem ernsthaften Werke von meh=
rern Bänden; so ergiebt sich nichts daraus als die
            enthu=
      327
==
enthusiastische Anpreisung eines neuen Geheimen
Ordens.
 
Wie aber weiter die Sache sich eigentlich ver=
hält, was an dieser Darstellung Wahrheit oder
anlockende Einkleidung, Thatsache oer allegori=
sche Hülle sein mag, und ob das Ganze ein
Ding was schon existirt oder nur ein Vorschlag
des Hrn Stilling ist: darüber werden freilich die
Uneingeweihten hier so wenig klug, als bei allen
andern sogenannten „historischen Nachrichten“
von geheimen Gesellschaften. Indeß bleiben
solche Dinge doch immer der Betrachtung werth.
Es kömmt nicht sowohl darauf an sie ganz zu ent=
zifern, als vielmehr ihren Geiste nachzuspüren,
und allenfalls den Zusammenhang worin sie mit
andern geheimen Dingen stehen mögen, auf=
zufinden. Eben darum beschäftige ich mich mit
der Kenntniß der in unsern Tagen pilzmäßig
aufschießenden Geheimen Gesellschaften, und
halte diese Kenntniß für nützlich. Sie erleichtert
die Vergleichung; und schon diese ist lehrreich
weil man die neue Pflanze nun doch einigermaßen
zu klassifiziren weiß. Jeder Naturhistoriker er=
kennt, wie wichtig es bei solchen kryptogamischen
Geschöpfen ist, nur Ähnlichkeit im Habitus und
in der Fortpflanzung zeigen zu können.
      X 3   Es
323
==
Es soll in Deutschland einen Orden der
Kreuzfrommen geben, woran der Namen
„Kreuzritter“ und die ganze oben gelieferte Nach=
richt von den thätigen Mitgliedern der Stillingi=
schen Geheimgesellschaft bald erinnert. Freilich
ist die Beschreibung nicht sehr lieblich welche uns
von jenem Orden mitgetheilt wird *). Die Mei=
ster sind nicht nur wegen ihrer Unwissenheit und
wegen der im Orden vorgenommenen Albernheiten
berüchtigt, sonder auch wegen ihrer Ränke und
ihrer Herrschsucht. Finstere Bigotterie, aber=
gläubischer Wahn, Intoleranz, Verfolgung der
freier Denkenden, macht ihren Charakter aus;
dabei halten sie sich für das einzige Salz der Erde,
und wenden Verschmitzheit und noch schlechtere
Mittel an, damit ihre Grundsätze und sie selbst
über die Vernunft triumphiren mögen. Es
herrscht bei ihnen die schwerfälligste Unaufgeklärt=
heit in Religionsbegriffen; über moralische Ver=
            pflich=
 
*) Man s. die Schrift: „Ist Kagliostro [sic; Cagliostro] der Chef der
„Illuminaten? Aus dem Französ. übersetzt. Go=
„tha, bei Ettingerm 1790.“ Und: “Der Frei=
„maurer, oder kompendiöse Bibliothek alles Wis=
„senswürdigen über Geheime Gesellschaften, von
„Andre. Gotha und Halle, bei Gebauer, 1793.“
Heft 2, S. 60.
      329
==
pflichtungen hingegen wissen sie sich sehr leichten
Schwunges hinwegzusetzen. Alle Kreise sind von
ihnen in Provinzen vertheilt, sie korrespondiren
in Hieroglyphen, und unterhalten Reisende
welche Alles ausspioniren. Die Mitglieder wer=
den durch gleichförmige Eidschwüre verstrickt, -
Man muß gestehen daß einige Züge der Ähnlich=
keit sehr treffend sind.
 
Eine andere neulich bekannt gewordene Ge=
heime Gesellschaft ist der Jerusalemsorden oder
der Orden a priori (man s. Jänner, Nr. 5).
Wes Geistes Kind dieser sei, ist damals gezeigt
worden. Die Ähnlichkeit zeigt sich hier noch deut=
licher, und man mögte Hrn Heinrich Stilling
fast für den Großmeister a priori selbst halten.
Auch in seinem Orden bezieht sich Alles auf Je=
rusalem, wohin die Brüder wallfahrten, wo die
höchste letzte Einweihung geschieht, und wo die
Krone nebst den andern Schätzen liegt welche der
Orden als sein Eigenthum ansieht. Auch hier
hat der unbedingte Gehorsam, die große Kasse
woraus die Obern die Brüder unterstützen, die
Missionsanstalt, die wiederhohlten Prüfungen, die
Einrichtung daß die jüngern Ritter nicht einmal
ihre ältern Brüder und Vorgesetzte kennen lernen,
die Hieroglyphenschrift, und mehr Anderes Statt,
      X 4   sowie
330
==
sowie beim Orden a priori. Und wieviel wird
hier nicht, unter den ägyptischen Pyramiden und
auf dem Berge Sinai, sein sollend a priori
philosophirt und metaphysizirt! – Der Orden a
priori endlich hat, ganz unerklärlich, eine Stif=
terin (Jänner, S. 67); und, siehe da! dieser
neue Jerusalemsorden ist von der „königlichen
Prinzessin Urania“ gestiftet worden.
 
Der Name Geheime Gesellschaft steht,
Dank sei es der Publizität! nicht mehr im besten
Rufe. Hr Heinrich Stilling findet also für gut,
öffentlich auch gegen die Sache zu protestiren: er
erklärt daß nicht von einer geheimen Gesellschaft
bei ihm die Rede sei; und vom ersten Blatte bis
zum letzten lesen wir doch von nichts, als von
Aufnahmen, Stufenbeförderungen, Prüfungen,
und der ganzen wunderbaren Wirksamkeit eines
sich sehr geheim haltenden Ordens.
 
Noch anstößiger ist, dem Himmel sei Dank!
endlich der Name Jesuiten geworden. Es tritt
keine geheime Gesellschaft mehr hervor, ohne zu
suchen diesen Namen entweder öffentlich oder still=
schweigend von sich abzulehnen. Hr Stilling er=
klärt sich laut und geradezu gegen jeden Gedanken
eines Lesers bei seinem Buche an diese Exväter.
Ob er ihre Grundsätze vermieden hat, mag aus
            Obigem
      331
==
Obigem Jeder selbst beurtheilen; wie ehrenvoll
sogar ihr Namen noch bei ihm erscheint, zeigt
die zweifache Stelle Th. 3, S. 416, 417,
wo ein als Emissar herumreisender Bruder in
seinem Berichte Nachstehendes meldet. „Der
„Jesuitenorden hinderte die Aufklärung.“ [= Ausgabe Sam, S. 593.]
{Nichts ist wahrer als das. Nur erinnerte man
sich, oder sehe gleich aus dem Folgenden, daß
dieser neue Jerusalemsorden eben
sowenig geneigt ist als die Kreuzfrommen und der
Orden a priori.} „Der Jesuitenorden hinderte
„die Aufklärung; nun ist er weg, und sie strömt
„mit vollen Fluthen einher, und wird Religion
„und Staatsverfassungen wegspülen.“ [Sam a. a. O.] Also
ganz das verächtliche bekannte Geschwätz, um
uns zu jenen Vätern zurückzuschrecken, mit wel=
chen doch Hr Stilling nichts zu thun haben will!
 
Noch ein charakteristischer Zug. Als man am
Hofe des großen Monarchen im Orient zweifel=
haft ist, ob der neue Fürst (der Held der Ge=
schichte) seines hohen Amtes würdig sei, wird er
durch eine nächtliche Stafette dorthin plötzlich ab=
gerufen, und muß daselbst – ein Gutachten über
die Preßfreiheit ausarbeiten. Es fällt für die
Beschränkung derselben aus. Sogleich wird er
des Fürstenthums völlig würdig erkannte!
      -----