In der „Theorie der Geister=Kunde“ handelt Jung-Stilling in Paragraph 64 und den folgenden Paragraphen über den „thierischen Magnetismus“. Im Jahr 1816 schreibt er noch einmal dazu:
 
 
[…] Daraus folgt nun unwidersprechlich: daß dasjenige, was unsre heutigen Propheten und Prophetinnen Wahres voraus sagen, nicht von Gott, sondern von ihnen selbst ist. Aber das ist doch sonderbar – wie geht das zu, und wie ist das möglich? Die Theorie der Geisterkunde enthält den wahren Aufschluß dieser sonderbaren Erscheinung: da dies Buch aber doch nicht in jedermanns Händen ist, so will ich euch hier diesen Aufschluß kurz und nach der Wahrheit mittheilen.
Der seit dreißig Jahren bekannt gewordene, sogenannte thierische Magnetismus, welcher darinnen besteht, daß wenn gewisse Menschen, die natürliche Anlagen dazu haben, von einem andern starken und gesunden Menschen, nach gewissen Regeln mit den Händen leiße bestrichen werden, in einen natürlichen Schlaf fallen, und wenn dieses Bestreichen oft wiederholt wird, (man nennt dieses Bestreichen magnetisiren) so gerathen solche Personen nach und nach in einen sonderbaren Zustand; sie kommen ausser sich, sie sind sich selbst nicht bewußt, alle ihre Sinnen ruhen, sie sehen aus als Menschen die in einem tiefen Schlaf liegen; sie fühlen gar nichts, man mag sie schneiden oder brennen, mit einem Wort: die Seele hat sich von den Banden des Körpers ehr oder weniger frei gemacht, von allen Menschen die um sie her sind, wissen sie gar nichts, sie hören und sehen nicht, nur die Person die sie bestreicht (magnetisirt) die sehen sie, und hören sie, aber nicht mit den Augen und den Ohren, sondern aus der Gegend der Herzgrube; mit diesen Personen sprechen sie auch, und beantworten ihre Fragen.
In diesem Zustand werden die Kräfte der Seelenmehr oder weniger erhöht und entwickelt, so daß viele nun mit dem Geisterreich in Bekanntschaft kommen, sie verkündigen Dinge, die in der Zukunft geschehen werden, und sie geschehen wirklich, sie wissen vieles, das in der Ferne geschieht, und nach einiger Zeit erfährt man, daß es wirklich wahr ist.
Kurz es gehen da oft wunderbare und unbegreifliche Dinge vor. Diese sonderbare Entdeckung machte man in der Mitte der achtziger Jahre des abgewichenen Jahrhunderts, alle Philosophen, Aerzte und Naturforscher empörten sich dagegen, sie riefen überlaut, es sey lauter Täuschung, Schwärmerey und Betrug: allein einige wenige vernünftige Aerzte, die sich von der Wahrheit der Sache überzeugt hatten, blieben am Versuchen, und nun endlich ist man so weit gekommen, daß kein Vernünftiger und Sachkundiger mehr daran zweifeln kann.
Man nennt die Personen, welche auf oben beschriebene Weise in den Schlaf gerathen, magnetische Schlafwandler (Somnambüle) und diejenigen welche in den erhähten Seelenzustand gerathen, hellsehende Schlafwandler. Die eigentliche Ursache, warum vernünftige Aerzte gewisse Personen magnetisirem besteht darinnen, daß sie im Zustand des Hellesehens ihre eigene Krankheit genau kennen; das Wunderbarste aber ist, daß sie dann auch die dümmste und allereinfältigste Arzneien verordnen, die sie in ihrem natürlichsten Zustande gar nicht kennen, und wodurch sie dann auch unfehlbar curirt werden. Wenn sie nicht geheilt werden können, so sagen sie es, und verordnen sich nichts.
Auch fremden Personen können sie ihre Krankheit sagen, und Arzneien verordnen; wenn sie hernach erwachen, so wissen sie nichts von dem was sie gesagt haben, und was mit ihnen vorgegangen ist. Man hat seit Kurzem Beispiele erlebt, daß kränkliche Personen von selbst, ohne Bestreichen vollkommenmagnetische und hellsehende Schlafwandler geworden sind. Die sich selbst curirt, wunderbare Dinge von der Geisterwelt erzählt, auch prophezeit, und was in der Ferne geschieht, angezeigt haben.
Vieles traf auch ein, wovon man sich zu überzeugen Gelegenheit hatte. Aus dem Allem ist nun klar, daß in der menschlichen Seele ein natürliches Ahnungs=Vermögen verborgen sey, wodurch, wenn es durch Kunst, oder Krankheit, oder durch eine natürliche Anlage entwickelt, die Seele von den Banden des Körpers mehr oder weniger befreit wird, und in einen erhöhten Zustand geräth, in dem sie in die Zukunft und in die Ferne sehen, und also prophezeien kann.
Daß dieß Ahnungs=Vermögen wirklich eine wesentliche Eigenschaft der menschlichen Seele sey, das kann nach allem, seit einigen Jahren her gemachten Erfahrungen, nun nicht mehr geläugnet werden. Da es aber im gesunden natürlichen Zustande ruht, und gar nicht bemerkt wird, durch seine Entwicklung aber große Unordnung in der menschlichen Gesellschaft entstehen kann, indem man die zukünftigen Vorfälle nicht wissen soll, so erhellte daraus, daß dieß Ahnungs=Vermögen nicht für dieses irdische, sondern für jenes Leben bestimmt; dieser Satz wird auch noch durch die Beobachtung bestärkt, daß das Ahnungs=Vermögen in dem Verhältniß stärker und deutlicher wird, in welchem sich die Seele von den Banden des Leibes loß macht, und daß es also nach dem Tod seine vollkommene Entwicklung und Stärke erreicht, welches aber in dem gegenwärtigen Leben nie so vollkommen geschehen, und also auch die Seele nie vollkommen klar in die Zukunft sehen, und also irren kann.
Diese Ungewißheit wird nun noch dadurch sehr vermehrt, daß auch die Einbildungskraft in dem erhöhten Zustand der Seelen, in eben dem Verhältniß erhöht wird, so daß ihre Bilder eben so lebhaft werden, als diejenigen, welche durch das entwickelte Ahnungs=Vermögen entstehen; da nun die Bilder der Phantasie willkührlich sind, wie wir in den gewöhnlichen Träumen sehen, und sie die Seele nicht von der Wahrheit unterscheiden kann, so nimmt sie sie auch für wahr an, und hält dann alles für göttliche Offenbarung, da doch nichts von dem Allem göttlich, sondern blos natürliche Folge des entwickelten Ahnungs=Vermögens, und der erhöhten Einbildungs=Kraft ist.
Hierher gehören nun alle die Schwärmereien, Wahrheit und Täuschung des Leichen und Geistersehens, alle die Entzückungen, in welchen solche Personen Engel und Geister, wohl gar Christum selbst sehen, und mit allen diesen Wesen Umgang haben. Alle diese Sachen können wahr und auch falsch, Folgen des entwickelten Ahnungs=Vermögens, und also wahr, aber auch Geburten der Phantasie, und daher falsch seyn, da man dies nun nie unterscheiden kann, so gehen uns alle diese Sachen nichts an, wir dürfen nicht darauf achten. […]
Aus diesen ganz richtigen Betrachtungen folgt nun, daß man den Magnetismus durchaus nur zur Heilung solcher Krankheiten anwenden müsse, die durch kein anderes Mittel geheilt werden können, und daß in solchem Fall das vorwitzige Forschen nach der Zukunft, oder was jezt in der Ferne geschieht, oder nach der Beschaffenheit der Geisterwelt, aufs Strengste und bei hoher Strafe, verboten werden müsse; damit aber dieß Verbot auch gehörig befolgt werden könne, so dürfte nichts anders als in Gegenwart eine vernünftigen Arztes. und eines gewissenhaften Predigers magnetisirt werden.