Zur Bezeichnung „Patriarch der Erweckung“ bzw. auch „Vater der Erweckung“

Für Jung-Stilling wird diese Bezeichnung erstmals im Jahr 1862 benutzt. Der Geber dieser Bezeichnung -  August Friedrich Christian Vilmar (geb. Solz bei Bebra 21.11.1800, gest. Marburg 30.07.1868) - erklärt diese sehr gut, indem er sie vom allgemein benutzten "Patriarchen" (s. u.) absetzt. 

Martin Völkel (1940-2023): „Die ehrenvolle Bezeichnung Jung-Stillings als "Patriarch der Erweckung" hat sich etabliert. Tatsächlich darf der Beitrag Jung-Stillings nicht marginalisiert werden, dennoch erscheint es angemessener, mit M. Schmidt, Art. Erweckungsbewegung, EKL, Sp.1135 ff. ein wenig bescheidener vom "Patriarchen der süddeutschen Erweckung" (Sp. 1138) zu reden!“ (Martin Völkel: Bemerkungen zu den Briefen Johann Heinrich Jung-Stillings und Johann Anton Sulzers über Katholizismus und Protestantismus (1810 / 1811). Eine theologiegeschichtliche Momentaufnahme. = URL.)

Siehe nun dazu:

„Johann Heinrich Jung-Stilling. ‚Wenn einen der König des Himmels und der Erden zum Werkzeug macht’“. – In: Harald Salfellner (Hrsg.): Mit Feder und Skalpell. Grenzgänger zwischen Literatur und Medizin. Prag: Vitalis 2014, ISBN 978-3-89919-167-7, S. 21-56. – Geschrieben Dezember 2010, erschienen 2014.

 

Bereits William Law (1686-1761) bezeichnete man als den Vater der Erweckung im 18. Jahrhundert und als den Großvater des Methodismus, und Hilmar Ernst Rauschenbusch (1745-1815 ) ebenso als den Vater der Erweckung.

(Vgl. z. B. Monatsschrift für innere Mission 26, 1906, S. 317; Gerhard A(dolf). Wauer: Die Anfänge der Brüderkirche in England. Ein Kapitel vom geistigen Austausch Deutschlands und Englands. Phil. Diss. Leipzig vom 6. Juli 1900, Leipzig: Jansa 1900, 152 S., S. 47. – Thimme, Hans-Martin: Hilmar Ernst Rauschenbusch – ein Vater der Erweckung. – In: Jahrbuch für westfälische Kirchengeschichte, 97 (Bielefeld: Verein für Westfäl. Kirchengeschichte, ISSN 0341-9886, 2002), S. 65-103.)

Als „Patriarch“ der Erweckung ist und war neben Jung-Stilling z. B. auch Hans Ernst von Kottwitz (1757-1843) zu (be)nennen.

Gustav Adolf Benrath (Hrsg.): Quellenbuch zur Geschichte der Evangelischen Kirche in Schlesien. München: Oldenbourg 1992 = Schriften des Bundesinstituts für Ostdeutsche Kultur und Geschichte (Oldenburg) ISBN 3-486-55916-8, S. 252.

Schon zu Lebzeiten war Jung-Stilling manchem als Patriarch erschienen, wie sich z. B. auch in den Gedichten Max von Schenkendorfs (1783-1817) erweist.

Jung-Stilling in der Dichtung Max von Schenkendorfs. - In: Michael Frost (Hrsg.): Blicke auf Jung-Stilling. Festschrift zum 60. Geburtstag von Gerhard Merk. (Kreuztal/Siegen:) verlag die wielandschmiede (1991. - ISBN 3-925498-35-4), S. 135-159.

Die eigene Familie betrachte den Vater ebenso, der ja selbst in seiner Lebensgeschichte den Patriarchen Eberhard Stilling hervorhebt. So liest man in

„Vater Stillings / Lebensende. Lebensende, beschrieben von seinem Enkel Wilh. Heinrich El. Schwarz, Dr. der Philos. und jetzigem Stadtpfarrer bei der evang. Protestant. Gemeinde zu Mannheim. (Zweite etwas umgeänderte Auflage 1835.)“:

„Und nachdem er diese feierliche, erhabene Handlung, welcher er ohne Noth nicht unternommen hätte, weil er in Allem Ordnung, Brauch und Sitte ehrte und befolgte, nach rein evangelischen Grundsätzen als christlicher Patriarch auf dem Sterbebette beendigt, legte er sich zum Schlummer nieder, und es zeigte sich auf seinem schon damals verklärten Antlitze des Glaubenshelden erhabener Seelenfriede. Auch mochte er mit uns zweifeln, ob er noch den Tagesanbruch dieses Charmittwochs erlebte.“

Caroline Jung schreibt in ihrem Brief vom 1817-04-04 an Max von Schenkendorf (1783-1817):

„Hätten Sie ihn sterben gesehen - hätten Sie in der letzten Nacht das Abendmahl des Herrn von dem Patriarchen geweiht genossen, sein apostolisches Gebet gehört - seinen letzten Segen empfangen - seinen 3stündigenTodeskampf gesehen in dem der Glaubensheld mit vollem Bewußtseyn treu aushielt in Geduld u. Ergebung; wie er sich hinlegte zu sterben wie er die Arme zum Himmel emporstreckte in heißer Sehnsucht, wie er uns Kinder mit brechenden Auge noch liebend ansah - ach wie sprechen Worte diese Stunden aus –“.

Gustav Adolf Benrath faßt zusammen: „Wie zu einem Patriarchen blicken seine Familie und viele Freunde zu dem greisen Jung-Stilling auf, 5 und als einen „Patriarchen der Erweckung“ hat das spätere 19. Jahrhundert das Andenken an ihn hochgehalten. Aber eben ein solcher Patriarch war Jung-Stilling nicht von Anfang an: Erst durch mancherlei Schwierigkeiten, Enttäuschungen und Anfechtungen hindurch, nach Überwindung von Umwegen und Irrwegen, gelangte er zu diesem Ziel. Die fünf genannten Wegstrecken seines inneren Lebens gilt es zu verfolgen; am Schluß sind drei bezeichnende Elemente seiner Frömmigkeit festzuhalten.“ (Auslassung der Anm. 5.)
 

Gustav Adolf Benrath: Jung-Stillings Frömmigkeit. - In: Jahrbuch für Westfälische Kirchengeschichte hrsg. v. Ernst Brinkmann Bd. 85, Lengerich/Westf.: Klinker 1991, S. 185-203. (Nach dem Vortrag vom 17.09.1990 in der Martinikirche in Siegen.)

Gerhard Schwinge bekräftigt in seiner Promotionsschrift (S. 15 f.), dass „die These, daß die Bezeichnung Jung-Stillings 'als ‘Patriarch der Erweckung’ in besonderer Weise durch seine Erbauungsschriften gerechtfertigt ist“. Er vermutet dann fälschlich, dass die Bezeichnung „Patriarch der Erweckung“ – „das bisweilen in ‚Patriarch der Erweckungsbewegung’" verfälscht wird (ebd. S. 327) – für Jung-Stilling zuerst von

[Abb. Porträt Jung-Stilling, darunter:] Erich Schick / Heinrich Jung-Stilling / [verso:] Unsere geistlichen Ahnen / Eine Reihe von Lebensbildern / Herausgegeben von Wilhelm Keller / Heft 14 / [Titel = S. 1:] Heinrich Jung=Stilling / Der Patriarch der Erweckung / Von / Erich Schick / [Verlagssignet] / Evang. Missionsverlag Stuttgart [1941, 8°; S. 16 Textende; Umschlag hinten frei, dann letzte Umschlagseite: Verzeichnis der Reihe.]

benutzt worden sei.

Gerhard Schwinge: Johann Heinrich Jung-Stilling. Augenarzt, Staatswirtschaftler, religiöser Schriftsteller zwischen Aufklärung und Erweckung. - In: Lebensbilder aus Baden-Württemberg. I. a. der Kommission für geschichtliche Landeskunde in Baden-Württemberg hrsg. v. Gerhard Taddey u. Joachim Fischer. Bd. 18 der als Schwäbische Lebensbilder eröffneten Reihe. Mit 21 Abb. Stuttgart: Kohlhammer 1994, S. 114-147. [Abb. Porträttafel zwischen S. 132 und 133: Danneckers Gips Relief-Medaillon; Erläuterung ebd. S. 147. – Um Literaturangaben erweiterter Neudruck: Gerhard Schwinge: Johann Heinrich Jung-Stilling (1740-1817) Augenarzt, Staatswirtschaftler, religiöser Schriftsteller zwischen Aufklärung und Erweckung. – In: Lebensbilder aus der Evangelischen Kirche in Baden im 19. und 20. Jahrhundert. Bd. V: Kultur und Bildung hrsg. v. Gerhard Schwinge. (Heidelberg usw.:) verlag regionalkultur (2007. ISBN- 978-3-89735-502-6.) S. (12) 13-43. = Lebensbilder aus der Evangelischen Kirche in Baden im 20. Jahrhundert. I. A. des Evangel. Oberkirchenrats Karlsruhe hrsg. durch den Verein für Kirchengeschichte in der Evangel. Landeskirche in Baden von Johannes Ehmann, Volker Jerrmann, Gerhard Schwinge, Gottfried Seebaß, Udo Wennemuth Bd. 5.

Bereits 1907 – und in der englischen Übersetzung 1910 – benutzte Albert Freybe (1835-1910) diesen Ausdruck:

„Als Patriarch der Erweckung, der nicht nur wegen seiner glücklichen Operationen […]“ (S. 50);

„Stilling was a ‚patriarch of revivals’ who, in the time …“ (S. 97).

A[lbert]. Freybe: [Artikel:] Stilling. - In: Realencyclopädie für protestantische Theologie und Kirche. Begr. v. J[ohann]. J[akob]. Herzog. In 3. verb. u. verm. Aufl. [...] hrsg. v. Albert Hauck. 19. Bd. Stephan III. - Tonsur. Leipzig: Hinrichs 1907, S. 46-51. – The New Schaff-Herzog Encyclopedia of Religious Knowledge, based on the third ed. of the Realencyklopädie founded by J. J. Herzog an ed. by Albert Hauck. (Eine genaue Lektüre dieses Artikel verhilft zur Quelle zu finden.)

 
Ob sich Jung-Stilling selbst mit „zunehmender Selbstgewißheit […] als ‚Patriarchen der Erweckung’“ fühlte, wie Wilhelm Schulte meint, ist zu hinterfragen.

Wilhelm Schulte: Heinrich Jung-Stilling. - In: Wilhelm Schulte: Westfälische Köpfe. 300 Lebensbilder bedeutender Westfalen. Biographischer Handweiser. Münster: Aschendorff (1963), S. 141-143.

Schwinge bringt a. a. O. weitere Nachrichten zur Bezeichnung, die von Volker Jordan S. 113, Anm. 862 aufgegriffen, jedoch nicht erweitert werden.

Volker Jordan: Der protestantische Frühkonservativismus in Deutschland in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Fachbereich: Geschichte - Neuzeit, Absolutismus, Industrialisierung, Kategorie: Magisterarbeit, Jahr: 1997, Seitenzahl: 186, Note: 1,75, Literaturverzeichnis: etwa 888 Einträge, Größe: 1081 KB; siehe http://www.diplomarbeiten24.de/vorschau/65420.html; Archivnummer: V65420; ISBN (E-Book): 978-3-638-57988-9; ISBN (Buch): 978-3-638-71076-3

 Durchgesetzt hat sich diese Bezeichnung anscheinend doch für Jung-Stilling:

Die Evangelische Erwachsenenbildung Karlsruhe und Durlach verbreitet zum 1990-09-12 den Handzettel „Kirche in der Stadt“ mit einer Einladung zum Thema „Jung-Stilling - Patriarch der Erweckung - Ein Abend anläßlich seines 250. Geburtstags“. Gerhard Schwinge referierte, Katrin Hellmuth, Susanne Dick, Wolfgang Müller und Antje Renner hatten die musikalische Gestaltung. Ort ist der „Jung-Stilling-Saal, Sedanstraße 20“.

  

Im Jahr 1800 urteilt man auch einmal so über ihn:

„Stilling halte sich für des lieben Gottes Schäferhund, der die Kinder Gottes zusammen treiben müsse, […]."

  

1816 liest man (nachdem man es schon am 1807-03-07 (siehe hier) geschrieben hatte:

Eine Frau, die eine Augen-Operation ihres Mannes durch einen benachbarten Arzt ablehnte „antwortete mir: ‚nur von dem Manne Gottes, Stilling, könne sie Hülfe erwarten.’ Aus ihren weitern Gesprächen sahe ich, daß Stilling in der Schweiz, unter den Landleuten, großen Anhang hat, die in ihm wenigstens einen Apostel verehren, und ihm auch wohl, wie weiland den Aposteln, Wunderkraft beilegen.“

 

Im Jahr 1823 wird Jung-Stilling auch einmal als "Knecht Gottes" bezeichnet.