Zur Vita Jung-Stillings
Johann He(i)nrich Jung, genannt Jung-Stilling, wurde weltbekannt durch seine Lebensgeschichte, die 1777 im ersten Band Johann Wolfgang Goethe unter dem Titel "Henrich Stillings Jugend. Eine wahrhafte Geschichte." herausgab, und durch den Roman "Das Heimweh" (1794-1796).
"Stilling" als Beiname (appellatio propria) seit Erscheinen der "Jugend"; wahrscheinlich – ein Nachweis ist bisher nicht möglich – nach Psalm 35, wo in Vers 20 "die Stillen im Lande" genannt werden. [1] Im Spanischen [siehe Versión abreviada en español] – wie hier benutzt – bedeutet los mansos (die Stille) auch: der Friedfertige. Zeitgenossen sprechen immer vom „guten“ oder vom „braven“ Jung. Wilhelm von Humboldt meint: „Ein Hauptzug seines Charakters scheint Sanftmuth und Bescheidenheit zu sein.“ – Robert Boxberger (1836-1890) verweist zusätzlich (und für Jung-Stilling passend) auf 1 Thess 4, 11 ('und ringet darnach, daß ihr stille seid und das Eure schaffet und arbeitet mit euren eigenen Händen, wie wir euch geboten haben').
Seine Methode der Augenchirurgie half durch Operation etwa 2.500 bis 3.000 Menschen; gut 25.000 dürfte er mit ärztlichem Rat versorgt haben. Seine Operationen führte er nach der Davielschen Methode (Jacques Daviel, 1696-1762) aus, die ihm in Straßburg nahe gebracht wurde. Zur Zahl der Operationen siehe ausführlich hier.
Jung-Stilling war Arzt, Professor für Landwirtschaft, Kunstwissenschaft (= Technologie, Produktionswissenschaft), Handlungswissenschaft und Vieharzneikunde in Kaiserslautern und Heidelberg; seit 1787 in Marburg Professor für ökonomische Wissenschaften.
Eine 1784 anscheinend geplante Berufung an die Universität Leipzig blieb ohne Erfolg; aber die Leipziger ökonomische Gesellschaft ernannte Jung-Stilling 1787 zum Mitglied.
Im Jahr 1803 wird Jung-Stilling vom damaligen Kurfürsten, nachherigen Großherzog Karl Friedrich von Baden (1728-1811) zum Berater ernannt und damit freier religiöser Schriftsteller.
Im Jahr 1808 erscheint die "Theorie der Geister=Kunde", die bis heute in verschiedenen Auflagen im Buchhandel zu finden ist.
Jung-Stilling kann als markanter Vertreter des Spätpietismus gelten. Sein mit dem „Heimweh“-Roman beginnendes religiöses Spätwerk dürfte in seiner Wirkung kaum zu überschätzen sein. Das in Kreisen der beginnenden Erweckung viel gelesene Werk hat über die nationalen Grenzen Deutschlands hinweg maßgeblich zur Entstehung und Sammlung der Erweckungsbewegung beigetragen [und ihm den Ehrentitel eines „Patriarchen der Erweckung“ eingetragen]. - Siehe zu dieser Bezeichnung hier.
Neben seiner umfangreichen Korrespondenz – er hat etwa 20.000 Briefe geschrieben – sind u. a. seine Beziehungen zu Johann Caspar Lavater (1741-1801), Friedrich Heinrich Jacobi (1743-1819), Max von Schenkendorf (1783-1817), Barbara von Krüdener (1764-1824) und Johann Gottfried Herder (1744-1803) wichtig, die ebenfalls wie das Leben des Oberbergmeisters Johann Heinrich Jung (1711-1786) erforscht werden (müssen).
Dieser Onkel Jung-Stillings ist für den Bergbau im Siegerland 1 von Bedeutung, und er knüpfte die Beziehung zum röm.-kathol. Priester Johann Baptist Molitor (geb. Saalhausen 28.05.1702, gest. 1768) in Attendorn, dem Jung-Stilling eine Geheimschrift mit Rezepten gegen Augenkrankheiten verdankt.
Seine umfangreiche Titulatur
"der Weltweisheit [1786] und Arzneikunde Doktor [1772], Kurpfälzischer Hofrat [1785], weiland Professor für ökonomische Wissenschaften in Kaiserslautern [1778], Heidelberg [1784] und Marburg [1787], ehevor Gründungsmitglied der Geschlossenen Lesegesellschaft zu Elberfeld [1775-01-05]; Mitglied der Kurfürstlich ökonomischen Gesellschaft zu Lautern (seit 1776-12-19), der Kurpfälzischen ökonomischen Gesellschaft in Heidelberg, der Kurfürstlichen deutschen Gesellschaft in Mannheim [a. o. 1782-12-14; o. 1784-11-13, 1799 auswärtiges Mitglied], der Gesellschaft des Ackerbaues und der Künste in Kassel [1787-05-28] nebstdem auch [seit 1787-10-09] der Leipziger ökonomischen Sozietät Mitglied" und seit 1797-09-25 Mitglied der „Königlichen Societät der Wissenschaften und Künste“ in Frankfurt an der Oder
findet sich teilweise auch auf den Titelblättern der von dem ehem. Präsidenten, jetzigen Ehrenpräsidenten, der Jung-Stilling-Gesellschaft veröffentlichten Publikationen.
Eine autobiographische Skizze aus dem Jahr 1814/15 findet sich unter diesem Link.
Einen Lebenslauf aus dem Jahr 1803 - in die englische Sprache übersetzt - findet sich hier.
Einen Nachruf finden Sie unter diesem Link.
[1] Die unterschiedliche Zählung der Psalmen und ihrer Verse ändert nichts an dem Hinweis auf diese Textstelle in der Luther-Bibel. Der reformierte Jung-Stilling lobte sehr die Übersetzung Luthers. – Die Straßburger katholische Bibel (1734) z. B. zählt hier Ps. 34, V. 20 (mit anderer Übersetzung).
Vgl. die (von mir nicht eingesehene) Festschrift des Schwimm-Vereins Stillinge Dessau E. V. 1902-1927. Dessau: Schwimm-Verlag 1927 (Dessau : Sickert u. Reiche), 16 S., zahlr. Ill. – Nach freundlicher Auskunft des Vereins vom 2008-08-28 hat dieser nichts mit Jung-Stilling zu tun. Der Name des Schwimm-Vereins leitet sich ab von „Stilles Loch“, einer Kiesgrube bzw. einem alten Arm der Mulde. - Die Deutung entspricht der Interpretation des Beinamens von Jung-Stilling mit Schwerpunkt auf "still, friedlich"; dies wird bestärkt durch: Heinrich Lindner: Geschichte und Beschreibung des Landes Anhalt. Deßau [Dessau]: Ackermann 1833, S. 169: „Die Mulde hat viele stehende stille Wasser, daher Stillinge genannt, gebildet“.
Eine Hauptperson mit dem Namen „Stilling“ findet sich in [Victorin Laber; nicht Victorine/Victoria Laber:] Therese Westen. Die Geschichte unglücklich großmüthiger Treue. Berlin und Leipzig, in der Diepoldischen Buchhandlung 1786; [1] Bl., 156 S.; 8° [Rez.: Allg. dt. Bibliothek, Bd. 86, 1. Stück, 1789, S. 126-129. – Vgl. Martina Schönenborn: Tugend und Autonomie. Die literarische Modellierung der Tochterfigur im Trauerspiel des 18. Jahrhunderts. Göttingen: Wallstein Verlag 2004, ISBN 3892447608, 9783892447603; = Ergebnisse der Frauen- und Geschlechterforschung N. F. Bd. 4; zgl. Diss. Bochum 2002, S. 254. – Siehe auch Holzmann/Bohatta IV, 12241.]
Anm. Zum Bergbau im Siegerland und zur Grube in Hilchenbach-Müsen siehe man den interessanten Aufsatz von Petra Mertens-Thurner und Peter Kunzmann im Jahrbuch der Geschichtswerkstatt Siegen: Müsen - "Sur les tristes confins de l'âpre Westphalie" (im hintersten Winkel des rauen Westfalens), der einen bisher unbekanntenText über die Müsener Grube wiedergibt. Es handelt sich um das Gedicht von Marc Antoine Jullien (1777-1848), der auf einer Inspektionsreise Dillenburg und Müsen besuchte und dies in einem Gedicht darstellte. Dieser Text ist einer der ältesten, die Müsen betreffen. - Einem kleinen Kreis von Forschern in Hilchenbach war der Text vorab im Jahr 2008 bekannt gemacht worden.