Vater Stillings / Lebensende. Lebensende,
 
beschrieben von seinem Enkel
 
Wilh. Heinrich El. Schwarz
 
 
 
"Und das Wenige, was wir hier von seinem weitern Fortleben melden, soll nicht als Fortsetzung seiner Lebensgeschichte betrachtet seyn"
 
 
Dieser folgende Text ist auch vorhanden in der Ausgabe der Lebensgeschichte von Pfeiffer-Belli (1968) und der des Insel-Verlags (1983).
Auch war er in der Ausgabe von Reclam vorhanden (Hrsg.: Max Mendheim, 1908).
 
Als Teil eines Hörbuches ist er ebenfalls vorhanden.
 
 
Nota:
 
Neben dieser Darstellung der letzten Zeit Jung-Stillings durch Wilhelm Heinrich Elias Schwarz gibt es auch noch die von Caroline Jung. Sie schrieb am 4. April 1817 einen Brief an Max von Schenkendorf, in dem sie über das Ableben ihres Vaters berichtet.
 
Siehe dazu auch Das literarische Echo. Halbmonatsschrift für Literaturfreunde. Begr. v. Josef Ettlinger. 20. Jg., Oktober 1917 bis Oktober 1918. Berlin: Fleischel (1918), H. 8, Sp. 1262-1263, der Werner Deetjen zitiert, der den Brief nach der Handschrift abdruckt:
 
Werner Deetjen: Spenden aus der Großherzoglichen Bibliothek in Weimar. VI. Jung - Stillings Tod. - In: Zeitschrift für Bücherfreunde Organ der Gesellschaft der Bibliophilen (e. V.), der Deutschen Buchgewerbekünstler (e. V.) und der Wiener Bibliophilen-Gesellschaft. Begr. V. Fedor von Zobeltitz. Neue Folge. Hrsg. V. Georg Witkowski. 10. Jg., Leipzig: Seemann 1918/1919, H. 3, S. 62-63
 
 
 
Eine weitere Darstellung der letzten Zeit Jung-Stillings ist die von Johann Ludwig Ewald.
 
 

 
 
Vater Stillings / Lebensende. Lebensende,
beschrieben von seinem Enkel
Wilh. Heinrich El. Schwarz,
Dr. der Philos. und jetzigem Stadtpfarrer bei der evang. Protestant.
Gemeinde zu Mannheim.
(Zweite etwas umgeänderte Auflage 1835.)
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Das wirkungsreiche Leben des Großherzoglich Badischen geheimen Geheimen Hofraths Johann Heinrich Jung, genannt Stilling, Stilling, Doctors der Arzneikunde und der Weltweisheit, und mehrerer gelehrten Gesellschaften Mitglied, so reich gesegnet an mannichfaltiger Wirksamkeit ist durch dessen eigene Beschreibung schon lange in den Augen eines jeden Glaubigen als ein auffallendes Zeugniß der väterlichen Vorsehung Gottes bekannt. In diesen Blättern wollen wir nur die Haupt=Züge Hauptzüge von seinem am 2ten 2. April 1817. erfolgten Lebensende mittheilen, um der Welt ein neues Beispiel darzustellen, wie der Christ durch seinen Glauben bis zum Tode Gott verherrliche.
Der ehrwürdige Greis, dessen ältester Enkel ich mich zu seyn rühme, und in dessen Nähe mich glückliche Verhältnisse seit einem Jahre vor seinem Tode führten, begann zu Anfang des Jahres 1816. in dem 77ten 77. seines Alters, an Abnahme seiner sonst so gesunden und starken Leibeskräfte zu erkranken.
Mit kummervoller Besorgniß bemerkten Kinder, Kindeskinder, Freunde und Verehrer, die fortschreitende Entkräftung des geliebten Vaters Stilling, und fern und nah stieg manches Gebet um längere Erhaltung seines Lebens zum Himmel empor. Gott hat es nach seiner Weisheit erhört, denn der ließ ihn noch auf längere Zeit zum Segen zurück, als wir nach damaligen Umständen erwarten durften.
Eine Erholungs=Reise Erholungsreise zu seinen Kindern nach Heidelberg und der dortigen Gegend, und später im Sommer eine gleiche nach Baden, und zu seinen Kindern nach Rastadt, schienen seine Natur wiederum zu stählen; und wirklich konnte er im Verlaufe des vorigen Sommers noch 17 Blinden das Gesicht wieder geben, geben; da er aber bei seiner Mattigkeit mit schmerzhaftem Magenkrampf unaufhörlich belastet war und dazu an Seitenschmerzen litt, litt, – welche er selbst einem früheren Falle aus der Kutsche, und einem dadurch entstandenen organischen Fehler zuschrieb, – mußte er seit Anfang des Winters 1816 – 1817, gänzlich das Bett hüten; ohnerachtet der stärkendsten Mittel, die zu seiner Schmerzens=Linderung angewendet wurden, schwanden mehr und seine Kräfte. Von dieser Zeit an war es ihm nicht mehr möglich, seinen Briefwechsel fortzusetzen, nur die wichtigsten Briefe ließ er durch die Seinigen beantworten; und als ihm auch das Dictiren in seiner Kränklichkeit zu schwer wurde, konnten keine Antworten mehr erfolgen.
Doch war dieß nicht das Einzige, was ihn betrübte, wohl überzeugt von der Nachsicht derer, die sich schriftlich an ihn gewendet hatten, sondern er musste auch sehen, daß mit ihm zu gleicher Zeit seine schon von vielen Jahren her an Halskrämpfen fortwährend leidende Gattin von heftigen Brustschmerzen und Lungengeschwüren befallen wurde. Mit der freudigsten Ergebung in den Willen der göttlichen Vorsehung duldete das ehrwürdige Ehepaar, und desselben Anblick Ehepaar; und der Anblick seiner schmerzvollen Leiden war für Kinder und Freunde herzzerreißend, aber ihr Beispiel erhebend.
Zuweilen schienen Vater Stillings Stillings Lebenskräfte sich zu erneuern, dann suchte er seine Hauptarbeiten fortzuführen; jedoch unterlag seine Hand bald der Leibes=Schwäche. In diesen kräftigeren Stunden war es, wo er sein Alter zu schreiben anfieng, und es so weit für den Druck ausfertigen konnte, als es voran stehet.
Mehreres zu schreiben, ließen ihm seine Kräfte nicht zu, und die Fortsetzung schreiben zu lassen, untersagte er. Auch ist dasjenige, was er hier von seinem Alter erzählt, hinreichend, um seine letzte äußere Lage kennen zu lernen, und zugleich die Geisteskraft zu bewundern, welche stets auf dem Krankenbette seine Begleiterin blieb, und seine Seele noch in den letzten Athem=Zügen zum Himmel trug. Und das Wenige, was wir hier von seinem weitern Fortleben melden, soll nicht als Fortsetzung seiner Lebensgeschichte betrachtet seyn, sondern als ein Zeugniß für die Wahrheit des christlichen Glaubens, und dabey als Gewährleistung der Wünsche vieler Freunde, welche Kenntniß seiner letzten Stunden begehren.
Mit Freude, sagte er zu Anfang des Winters, als er das letzte Heft seiner biblischen Erzählungen und sein Schatzkästlein aus der Druckerey erhielt: "Nun habe ich doch meine biblische Geschichte noch vollendet!" Gegen Weihnachten hin nahm die Schwäche des verehrten Vaters und die Krankheit seiner theuern Gattin bis zu dem Grade zu, daß wir für beide nicht mehr lange hoffen konnten. Auch entledigten sich beide aller irdischen Sorgen, welche sie für ihre Hinterlassene noch auf dem Herzen hatten, und waren zur Heimreise geschickt. Indessen wollte uns der Himmel ihre Gegenwart noch einige Monathe gönnen, denn zu Anfang des neuen Jahres 1817. 1817 kamen sie wieder zu mehr Kräften, so daß sie zuweilen außer Bett eine zeitlang zu bleiben vermochten.
Zuvor hatte der ehrwürdige Greis oft zu seiner für ihn noch auf dem Sterbebette besorgten Gattin gesagt: "Es ist mir einerley einerlei, wie es kommt, fortwirken oder nicht, ich bin auf alles gefaßt." Ja und Ja, diese gänzliche Ergebung Entsagung in den Willen seines himmlischen Vaters, zeigte er fortwährend, und rief darum auch einmal in einem durch seinen heftigen Magenkrampf veranlassten Schmerz: "Gott hat mich von Jugend auf mit besonderer Vorsehung geleitet, ich will nicht unzufrieden seyn, sondern ihn auch in meinem Leiden verherrlichen!"
Dabei war die Beschäftigung seiner Gedanken die ganze Zeit seiner Bettlägerigkeit auf die Gegenstände des Reiches Gottes gerichtet, von diesen unterhielt er sich am liebsten mit seiner Gattin und seinen Kindern und Freunden, und darum las er mit unbeschreiblichem Wohlgefallen die Schriften von Kanne "Leben und aus dem Leben erweckter Christen";
 
Johann Arnold Kanne (geb. Detmold Mai 1773, gest. Erlangen 17. Dezember 1824) "Leben und aus dem Leben merkwürdiger und erweckter Christen aus der protestantischen Kirche von Johann Arnold Kanne, Professor. - Erster Theil. Nebst angehängter Selbstbiographie des Verfassers. - Bamberg und Leipzig, bey Carl Friedrich Kunz. 1816." – Hier heißt es in der Vorrede, datiert vom 3.09.1815 in der Anm. von S. XXII her auf S. XXIII: "Darum eben sind sie [= die Mystiker = die innerlichen Christen] gerade von den edelsten und geistreichsten Protestanten anerkannt worden, und noch vor kurzem haben zwey derselben, Stilling und der Verfasser der Schrift: Alles wird neu, wiederholt ernstlich gesagt, was es denn eigentlich mit dem Mysticismus auf sich habe. Die Mystiker wollen, um es kurz zu sagen, das eigentliche und innerste Christenthum, das dem natürlichen Menschen freylich das beschwerlichste ist, aber ohne das man eben doch nicht bis zu dem, wovon die Mystiker den Namen haben, nemlich nicht zum Geheimniß von Christo vordringen kann."
 
und von Schubert, Schubert "Altes und Neues aus der höhern Seelenkunde",
 
Gotthilf Heinrich Schubert, Altes und Neues aus dem Gebiet der inneren Seelenkunde, Bd. 2, 1824, 246-256, 308-313; Bd. 3, 166-172. 192-198. 229 ff. 242-245. 254 ff.
 
und sagte einmal: "Diese Männer sind von der Vorsehung zu tüchtigen Werkzeugen in diesem Jahrhundert auserkohren!" Und als er Blumhards Magazin für die neueste Geschichte der protestantischen Missions=Bibel=Gesellschaften, Basel 1817.
 
Christian Gottlieb Blumhardt geb. Stuttgart 29.04.1779, gest. Basel 19.12.1838; imm. Tübingen 15.11.1798 (Nr. 39471) im Alter von 19 Jahren; 1803 Sekretär der Dt. Christentumsgesellschaft in Basel; NDB Bd. 2.
 
durchlesen hatte, und wir uns von dem schönen Fortgang des Reichs Gottes in der neuern Zeit unterhielten, so sagte er: "Siehe, l[ieber]. S[chwarz/(chwieger)-ohn ?]., das ist jetzt in meinem Alter meine Freude und Erholung, wenn ich so da liege, und höre von der weitern Ausbreitung des Christenthums."
Mit dieser Beschäftigung, mit dem Lesen anderer christlicher Bücher, und der Erbauung aus der heiligen Schrift die immer neben ihm lag – und aus geistlichen Liedern, brachte er seine Zeit dahin, die ihm auch, wie er sagte, nie lang wurde.
Nur zuweilen ließen seine Kräfte ihm zu, sich mit uns zu unterhalten, und kamen Freunde, die ihn sprechen wollten, zu einem solchen günstigen Augenblicke Augenblick, so konnte er ihrem Wunsche Gehör geben. Alsdann gab er immer dieselbe muntere Unterhaltung, die ihn im gesellschaftlichen Leben jederzeit so liebenswürdig gemacht hatte. In solchen Stunden sprach er gerne von seinem Jugendleben, und erzählte einer Freundin öfters mit besonderer Freude von seinen Verwandten in den niederrheinischen Gegenden. Wenn man ihm aber die Freude über sein besseres Ergehen äußerte, so wollte er das nicht hören; und als ihm einmal eine junge Freundin sagte, sie hoffe, daß die schöne Frühlingszeit ihm wieder neue Lebenskraft Lebenskräfte zuführen werde, entgegnete er: "Ach, sagen Sie mir so etwas nicht, denn ich will nicht, daß sich meine Freunde täuschen!" – Und dem Arzte äußerte er oft, wie er sein Ende herannahen fühlte fühle.
Seine Aufheiterung war wie immer, Gesang und Spiel, und während die jungen Freunde nach seinem Gefühle sangen, entrollten ihm Wonnethränen. Da er seit einigen Wochen nicht mehr in einem Zimmer mit seiner leidenden Gattin liegen konnte, weil ihre Krankheiten entgegengesetzte Temperatur erforderten, besuchte er dieselbe täglich eine Zeit lang, und dann wurde er an der Duldenden Bett geleitet, oder zuletzt auf einem Armstuhle gerollt; - und hier war es eine Freude, ihre erbaulichen Gesprächen anzuhören zuhören.
Wie er von Jugend auf durch seinen Wandel und seinen zahlreichen Schriften bey bei der erstaunenswerthen Belesenheit und Kenntniß, welche er in allen Fächern und Gegenständen mit so vieler Anstrengung sich erworben hatte, jederzeit bewiesen, was der Apostel Paulus sagt, daß nehmlich die Erkenntniß Jesu Christi alles andere Wissen übertreffe,
 
Vgl. Phil 3, 8.
 
so bestätigte er dieß noch unlängst, als wir untereinander von der Wirksamkeit seiner Schriften redeten, und er uns sagte: "Ja, alle Kenntnisse, Fähigkeit zum Schreiben, Ansehen, Ansehen und dergleichen , hat man blos durch Umstände nach dem Willen Gottes erhalten, und nach ihnen wird kein Mensch gefragt und gerichtet, wenn er vor den Thron Gottes kommt. Aber die Anwendung und das bischen Demuth und Glauben, was man hat, das ist es, was einem die Gnade Gottes zum Verdienst anrechnen will." Auch äußerte er gelegentlich seinem jüngsten Sohne: Es thue ihm leid, daß er in seinem Leben nicht mehr Zeit auf Zeichnen und Handarbeiten angewendet habe. Aber auch in dergleichen Dingen besaß er besondere Geschicklichkeit. [kein Absatz]
Der Aussagen Aeußerungen, die seine Thätigkeitsliebe und den Glauben an Jesum Christum bezweckten, könnten wir viele anführen, wenn wir nicht zu weitläuftig weitläufig würden. Auch ist es allen Allen bekannt, daß der ehrwürdiger Vater Stilling im Leben und in Schriften nur den Erlöser prieß und verherrlichte, und als ein ausgezeichnetes Werkzeug der göttlichen Gnade in der Zeit der ungläubigen Aufklärung neben manchen andern tüchtigen Männern zur großen Stütze der Kirche auserkohren war. Immer war seine Gesellschaft zur Aufheiterung, Belehrung und Erbauung, und solche blieb sie bis zu seiner Abschiedsstunde.
Als indessen die Frühlingszeit nahete nahte, nahmen auch die Krankheitsumstände des ehrwürdigen Ehepaares zu. [Absatz] Aber beyde beide, willig in dem Vertrauen zum Herrn, suchten mit großer Selbstverläugnung den Ihrigen ihre Leiden und Abnahme zu verbergen. Jedoch bemerkten wir die Annäherung der traurigen Zeit, die bald erfolgte. Nachdem seiner treuen Hausfrau Lungengeschwüre trotz aller angewendeten Mittel zum völligen Ausbruch gekommen waren, und Beengung und Schwächung zum höchsten Grade zugenommen hatten, entschlief sie den 22. März d. J. sanft und selig in dem Herrn. Zwey Zwei Tage zuvor hatte der ehrwürdige Greis Greis, als Arzt ihr nahes Ende wohl merkend, nachdem er ihr einige schöne Verse aus Gellerts Liedern, und aus Paul Gerhards: "Befiehl du deine Wege" u. s. w., vorgesprochen, mit den Worten von ihr Abschied genommen :" : — "Der Herr segne dich, du leidender Engel! – der Herr sey mit dir!" Und als er ihr Absterben vernahm, faltete er in Ruhe die Hände, hob seinen Blick gen Himmel, seufzte seuf[z]te und dankte : " Gottlob sie hat vollendet!" Seitdem lebte er auch schon mehr in jener Welt, er war lieber wie vorher sich selbst überlassen, wohl fühlend, daß das Verscheiden seiner Gattin auch für ihn der erste Uebergangsschritt sey. Darum sagte er uns, als wir bey bei ihm um die Entschlafene trauerten :" : "Sehet, das kann mir nicht so leid seyn, als Euch, da ich hoffe hoffe, sie bald wieder zu sehen!" Und was er vor vielen Jahren den 19. Nov. 1790 in dem von ihm auf seine dritte Hochzeit gedichteten Liede gebetet, und was beide geahndet hatten, nämlich jene Worte:
"Vater, und am Ziel der Reise,
Führ' und Beide, Hand in Hand
Auf, zum höhern Wirkungskreise,
Heim ins Vaterland!" –
das wurde wahr.
Seine Entkräftung wuchs, wenn gleich sein Geist immer lebendig blieb wie der eines Jünglings, nach seiner eigenen Aussage, und wie der lebhafte Blick seines Auges, der sich bis in die letzten Athemzüge offen und heiter erhielt, bezeugte. Darum vermochte er einige Tage vor seinem Ende noch der edlen Tochter einer erhabenen Freundin, auf ihren Wunsch, einige Stärkungsworte für deren nahe Confirmation zu geben, und mit ihrem erhabenen Sohne und edlen Schwester kurze Unterredungen zu pflegen. Auch redete er mit Bekannten über dieses und jenes, und so sagte er einmal zu einem alten Freunde und zu seiner zweiten Tochter unter andern: "Hört, ich muß Euch etwas sehr Wichtiges sagen, was zur Seelenkunde gehört: Nämlich, ich habe ganz das Gefühl, als wenn ich ein doppeltes Ich hätte, ein gesitiges und ein leibliches. Das geistige Ich schwebt über dem thierischen. Beide sind in dem Menschen im Kampfe, und nur durch Abtödtung alles sinnlichen Begehrens kann man dahin kommen, daß es nicht merh zusammenhängt. Aber durch eigene Kraft nicht, sondern durch Selbstverläugnung mit dem Beistande Gottes."
Jede andere Unterhaltung, als die von Gott und dessen Heilsanstalten, war ihm lästig, und deßhalb sagte er: "Er habe seit seinem Krankenlager noch keinen Augenblick lange Weile gehabt; aber seit dem Tode seiner Frau werde ihm die Zeit lange." Denn die Vollendete war ihm zur unentbehrlichen Lebensgefährting und Seelenfreundin geworden durch ihre aufopfernde Liebe und Sorgfalt für ihn, wie durch ihre Theilnahme auch an dem Geringsten, was ihn betraf. Sie war voll Zärtlichkeit auch gegen ihre zugebrachten Kinder, und überhaupt ein Muster von Menschenfreundlichkeit und Milde, von Selbstverläugnung und Demuth und ihm deßhalb so unendlich viel werth. Darum sehnte er sich desto mehr dahein zu seyn, aller irdischen Gedanken und Sorgen enthoben. Täglich wuchs seine Mattigkeit, und da er seit einem halben Jahre vor jeder substantiösen Speise einen unüberwindlichen Widerwillen bekommen, den auch die geschicktesten ärztlichen Bemühungen und alle Sorgfalt der Freunde nicht zu benehmen vermochten, und da das Wasser in der Brust anschwoll, so war es voraus zu sehen, daß der theure Mann nur noch einige Tage ale lebendiges Vorbild unter uns verweilen werde. In diesen Lagen sagte er zu einer Freundin: "Jetzt geht es bald!" Und als sie erwiederte: "Ach! was sind Sie glücklich, daß Sie dieß sagen können," antwortete er ihr freundlich: "Nun das freut mich, daß Sie das erkennen!"
Als wir sein Ende erfuhren, ermannten wir uns in dem Schmerze, und suchten noch jeden Augenblick seiner Gegenwart zur Erbauung und Stärkung im Glauben zu benutzen. Denn hatte seine Umgebung je diesen segensreichen Einfluß, so war es auf dem Sterbebette, wo er mit der bewundernswerthesten Besonnenheit und Ruhe den Augenblick des Uebergangs erwartete, den er vielleicht auf die Stunde voraus merkte, und wo er durch seine kindliche Hingebung in Gottes Fügung mitten in dem Todeskampfe als ein rechter Glaubensheld Christum verherrlichte, der ihn dafür stärkte und sodann verklärte. Sein Lebensende war ein sichtbarer Beweis für die Wahrheit des christlichen Glaubens, denn bei der Geisteskraft und allem dem Bewußtseyn, welches der Selige bis zum letzten Athemzuge nebst allem Gedächtnisse bewahrte, und bei der Ernsthaftigkeit, mit welcher er selbst, dieser weit Geförderte, die nahe Abforderung sich darstellte, mit der Ruhe und Heiterkeit, welche darauf folgte und sein würdevolles Antlitz umleuchtete, kann kein bloßer Deist oder Rationalist, kann nur ein Christ hinscheiden. Die Ehre seines Lebens und seiner Lehren, und die Sache des Reiches Gottes fordert mich darum auf, seine letzten Tage mit den wichtigsten Aeußerungen, welche er nach dem Zeugnisse aller Anwesenden und des verehrten Arztes bei völligem Bewußtseyn gethan, öffentlich vor aller Welt auszusprechen, damit man Gott die Ehre gebe.
Als er sein Absterben nicht mehr ferne sah, verlangte er alle seine Kinder zu sich, welche auch ihre Geschäfte so eintheilen konnten, daß ihnen diese letzte Freude vergönnt war; jedoch ängstigte ihn der Gedanke, sie möchten ihr Amt um seinetwillen vergessen, und darum sagte er ihnen, als er sie länger wie gewöhnlich bei sich verweilen sah: "Ja es wird Euch zu lange; Ihr versäumt zuviel, geht Eurem Berufe nach!" Denn so gern er sie um sich hatte, konnte er nicht leiden, wenn es schiene, man vernachlässigte seine Berufsgeschäfte; nachdem sie ihn darüber beruhigt hatten, ließ er zu, daß beständig eines von seinen Kindern bei ihm am Bette saß. Vorher nämlich brauchte er immer eine Schelle, um die in dem Vorzimmer zur Bedienung aufmerkenden Seinigen zu rufen, indem er gerne allein blieb, auch sprach er mit einem Jeden von Dingen, welche ihm um deßwillen noch an dem Herzen lagen. Daß ihm, der sich nach jener Behausung, die im Himmel ist, sehnte, die Zeit in den öfteren Anfällen der Krankheit seit den letzten zwei Tagen lang wurde, beweist sein öfteres Fragen nach der Uhr.
In der Nach schon vom Palmsonntag auf den Montag sprach eer seinem jüngsten Sohne, der gerade bei ihm wachte, viel von seinem nahen Tode, das er zuvor nie gethan, und schon damals sein Ende näher glaubend, sagte er ihm gegen Tagesanbruch: "Jetzt rufe deine Geschwister zusammen!" Jedoch kam er wieder zu mehreren Kräften, und, was er noch den Tag vor seinem Sterben that, er ließ sich ein Pfeifchen stopfen. Es machte ihm aber das Wasser in der Brust viel zu schaffen, nachdem sich schon einige Wochen zuvor seine Seitenschmerzen des Magenkrampfes verloren hatten; darum mußte er schwer und laut athmen und stöhnen, und öfters husten, was alles an dem vorletzten Tage verging. Er sprach sehr wenig, nur abgebrochene Sätze, aber immer mit völligem Bewußtseyn; auch schlief er wenig, wenn gleich er oft die Augen zuschloß, denn alsbald öffnete er sie, so wie sich Jemand bewegte, oder die Thüre ging.
An diesem Tage und früher, und noch am folgenden mag er sich viel mit Beweisen, Einwürfen, Gegenbeweisen und Widerlegen, für die Lehre der Unsterblichkeit und des christlichen Glaubens in Gedanken beschäftigt haben, das schien aus seiner Unruhe im Schlafen und Wachen, und aus den abgebrochenen Worten und Sätzen, welche er deßhalb aussprach, hervor zu leuchten. Denn, wie man auch vom heiligen Martinus sagt, sah er immer im Träume neben sich einen schwarzen Mann, der ihn quälte, und der seinen regen Geist beschäftigte und beunruhigte, gleichsam scheinend, als wollten böse Geister ihn noch auf dem Sterbebette ängstigen oder gar von dem Glauben abwendig machen. Denn schlafend sagte er: "Sagt mir doch, liebe Kinder, wer ist der schwarze Mann da, der mich immer quält? Sehr Ihr ihn denn nicht?" Einige Tage zuvor hatte er, wie er des andern Tags seinen Töchtern erzählte, geträumt: Der schwarze Mann spreche zu ihm: komme mit! Er aber habe geantwortet: "Nein ich will nicht, gehe weg!" allein diese Anfechtungen waren alle am vorletzten Tage überwunden, und seine Unruhe in große Ruhe und Feierlichkeit übergegangen. Auch erklärte er sich hierüber seiner dritten Tochter mit den Worten: "Ich glaube, ich habe den Todeskampf ausgekämpft, den ich fühle mich so allein, gleichwie in einer Einöde; - und doch innerlich wohl." Als sie indessen meinte, er habe nicht ferner mit dem Tode zu ringen – und sie ihn darüber befragte, erwiederte er: "Nein, es ist noch manches Pröbchen zu bestehen." Und daß der Christ weder mit Leichtsinn, noch mit Vermessenheit dem nahen Tode ins Auge blickt, erkennt man aus seinen Aeußerungen, welcher er deßhalb seiner zweiten Tochter gab, als sie an einem dieser Tage mit ihm sich vom Tode unterhielt, und er sagte: "Es ist eine wichtige Sache um das Sterben, und keine Kleinigkeit." Und ein anderes Mal: "Es ist eine wunderbare Sache um die Zukunft!" Woraus zu ersehen ist, wie auch dem Manne, der auf alle Seiten hin für die Ehre des Höchsten mit allen seinen Kräften in der Welt gewirkt hatte, und in dem die Zukunft mit den schönsten Farben sich darstellen konnte, wie auch ihm der Uebergang in jenes Leben und die baldige Rechenschaft höchst ernst und wichtig vorkam. Da er sein ganzes Leben hindurch im Schlafe laut gesprochen, war dieß auch jetzt noch der Fall, und da er einige Male dazwischen aufwachte, fragte er seine zweite Tochter: "Nicht wahr, seitdem meine Frau todt ist, bin ich nicht zu Hause, ich rede ungereimte Sachen im Schlafe?" – Als sie ihm entgegnete: nein, im Gegentheil, was er rede sey nur erbaulich, so sagte er: "Ja, das ist eine rechte Gnade Gottes!" Diese Besorgniß, im schlummernden Zustande etwas Ungeziemendes zu sagen, äußerte er mehrmals, denn er wollte nur zur Ehre des Herrn reden und ausharren. So hörte ich ihn im Schlafe nur gottesfürchtige Aeußerungen thun, als: "Gott hat mich mit unaussprechlicher Huld geleitet! – Der Herr segne Sie!" und – "Ja, man muß erst genau nachsehen, wie es gemeint ist, ehe man in Irrthum übergeht!" und dergleichen.
Mitzunehmender Schwäche ließ auch das öftere Sprechen im Schlafe nach, und wachend redete er weniger durch Worte als durch freundliche Blicke. Wenn er sah, wie sich Alle beeiferten, ihn zu bedienen, sagte er mehrmals: "Ihr lieben Engel, ich mache Euch so viele Mühe!" So sagte er auch: "Ach ihr Kinder, ich bin so gerührt durch Eure beispiellose Liebe! übrigens wünschte ich um Euertwillen, daß ich nicht im Paroxismus stürbe!" – Nämlich öfters wiederholte sich ein heftiger Anfall seiner Uebelkeit, der durch das Wasser in der Brust veranlaßt wurde, weil seine Krankheit in völlige Brustwassersucht übergegangen war; und darum sagte er uns einige Male: "Es ist doch etwas Trauriges, wenn man ersticken muß; aber es soll ja seyn!" An seinem Bette, das in seiner Arbeitsstube stand, aus welcher so viel Segen für die Welt ausging, und welche durch erhabene Gemälde, Kupferstiche und Denkmäler geschmückt, einem Heiligthume glich, hatte er fortwährend schöne Blumen in Töpfen stehen. Auf diesen und auf dem gegen ihn an der Wand hängenden Kupferstiche der Madonna nach Raphael von Müller, weilten besonders gerne seine Blicke.
So sagte er seinem jüngsten Sohne, der ihm die Blumenstöcke besorgte, im Gespräch: "Siehe, l[ieber]. S[ohn]. Die schönen Blumen (es waren Hyacinthen, Narcissen und Veilchen), "und darum herum die schönen Kinderköpfe!" In der Nacht vom letzten März auf den ersten April, sprach er noch mancherlei mit mir von meinen lieben Eltern und Geschwistern in Heidelberg, und von anderen Dingen, und von meinem geistlichen Amte. Sodann begehrte er ein Glas frisches Wasser, was er mit besonderer Lust trank, wie denn überhaupt sein trockener Gaumen mehr und mehr nach lebenden Geträneknlechzte; und diesen Trunk rühmte er des andern Tages seinen beiden jüngsten Töchtern, sagend: "Es kann sich Niemand den Wohlgeschmack vorstellen, den ich heute Nacht hatte, als ich ein Glas frisches Wasser trank; wenn die Natur wieder in ihren reinen Zustand zurückkehrt, und Wasser und Wein genießt, so ist das das Beste, wenn es der Krampf erlaubt." Und darum sagte er bald darauf: "Die einfachsten Speisen sind für den Menschen in der ersten und letzten Zeit nöthig; Wasser und Milch ist der Anfang und das Ende."
Gegen Tagesanbruch rief er seinem jüngsten Sohne, er solle ihm ein Pfeifchen stopfen, was ihm behaglich schmeckte. An demselben Morgen des ersten Aprils, als seine Kinder bei ihm waren, und mit uns noch einer meiner Brüder, den er des Abends vorher nach dessen Ankunft um das Wohlergehen der Seinigen befragt hatte, ermahnte er uns also: "Liebe Kinder, befleißigt Euch der wahren Gottesfurcht! da meint man als, es sey gethan, wenn man nur in die Kirche und zum heiligen Nachtmahl blos gehe; aber die gänzliche Ergebung in den Willen Gottes, beständiger Umgang mit ihm, und Gebet, das ist es!"
Als darauf seine zweite Tochter ihn bat, im Himmel mit seiner verklärten Gattin Fürbitte für die Seinigen einzulegen, antwortete er in seiner einfachen Art: "Ja, da muß man erst sehen, wie es jenseits der Gebrauch ist, dann bitten wir für Euch!"
Darauf betete er jenen Vers aus dem Hallischen Gesangbuche, Lied 11, 22:
"Ich rühme mich einzig der blutenden Wunden,
Die Jesus an Händen und Füßen empfunden.
Drein will ich mich wickeln recht christlich zu leben,
Daß einst ich Himmelan fröhlich kann streben!"
Und als er hörte, daß seine dritte Tochter ihre Schwester fragte, wo diese Worte stünden, gab er die neben ihm liegende Hallische Sammlung geistlicher Lieder seiner zweiten Tochter, ließ sie einige der schönsten Lieder aufschlagen und zeichnen, und befahl an, solche ihre Kinder im Institute im Choral gut singen lernen zu lassen, und sagte: "Lernt brav Verse und Sprüche auswendig, man kann sie brauchen!" Zugleich empfahl er ihr, die Kirchenlieder immer nur in der ächten einfachen Kirchenmelodie, ohne Künstelei, singen zu lassen. Denn er liebte auch im Kirchlichen das Einfache, Erhabene. Darauf sagte er ihr, als von gewissen Freunden
 
Siehe den Brief von Karoline Jung an Max von Schenkendorf, 4. April 1817; Druck: DEETJEN: Spenden VI, S. 62-63
 
die Rede war: "Schreibe den Lieben, ich hätte mich viel in den letzten Tagen mit ihnen beschäftigt, ich hätte sie lieb, und wir würden einmal Stoff genug zum Gespräche finden." Von denselbigen sagte er auch hernach: "Sie sind vom Herrn geliebt."
An diesem Dienstage, den ersten April, kamen viele Freunde, um ihn nochmals zu sehen, den ehrwürdigen Greis, wie er das lag mit aller Glaubenskraft, und freudig und feierlich duldete. Und ein jedes Herz ward durch diesen Anblick zum Himmel erhoben, und der Wunsch, einstmals eines gleichen Christentodes zu sterben, erzeugte manche neue edle Entschlüsse des thätigen Lebens zur Verherrlichung Gottes auf Erden.
Und wenn dann Vater Stilling seine Freunde zur halboffenen Thüre, die seinem Auge gerade gegenüber stand, herein schauen oder kommen sah, bewies er ihnen seine Liebe durch freundliches Zunicken, und genoß er gerade eines kräftigen Augenblickes, so sagte er diesem oder jenem einige Worte. Dabei verließ ihn nie sein munterer Sinn, der alle Menschen zu ihm von jeher hingerissen hatte. Als eine Freundin durch die Thüre sah, und er es bemerkte, sagte er scherzhaft: "Fr. v. R. guckt durch das Schlüsselloch." Eine andere Freundin kam gegen Mittag, und dankend für die Bekanntschaft, welche sie nebst den andern durch Gottes Gnade mit ihm gemacht habe, sprach sie von dem herrlichen reinen Gemüthe, das ihm der Herr gegeben habe, worauf er erwiederte: "O, Sie müssen nicht loben!" Derselben erzählte er nachher, indem er den Zeitraum seines ganzen Lebens, der, wie er selbst sagte, lange wäre, aber ihm wie ein Traum vorkäme, überdachte: "Da habe ich einmal in meiner Jugend eine kleine Flöte gehabt, die fiel mir auf den Boden und zerbrach, und da weinte ich zwei Tage lang; und sie kostete nur zwölf Kreuzer, aber damals war das Geld rar," und fuhr dann fort: "Sagt, was haben nun eigentlich die Recensenten gegen mich ausrichten können? Sie haben schreiben mögen, was sie wollten, so hat's nichts geholfen!" Um diese Zeit ließ er mich rufen und fragte: "Sage, wie wird denn das Jubiläum deds Reformationsfestes dieses Jahr gefeiert?" Als ich ihm in der Ueberzeugung, daß man keine Feierlichkeit zu diesem wichtigen Feste versäumen, und daß es in manchen Ländern gewiß nicht in Vergessenheit gerathen werde, antwortete er: Ja, ich habe davongehört, ja wohl; so war er in dieser Angelegenheit beruhigt.
In der Mittagszeit wollte er sich wieder mehr selbst überlassen bleiben, und sprach wenig oder nichts, auch war seine Beängstigung schon damals vorüber, und die heitere Ruhe glänzte aus seinen großen geistvollen Augen.
Die Uhren, welche neben ihm hingen, hatte er bis an diesen Tag selbst aufgezogen, auch seine Ringe in der Schublade des neben ihm stehenden Tischchens, und dergleichen Dinge, nachgezählt, und seine Ordnungsliebe, die ihm zu seinen zahlreichen Geschäften stets so förderlich gewesen war, verließ ihn nicht bis zu den letzten Augenblicken, wo er noch darauf bedacht war, die Getränke und Arzneien, die er immer selbst begehrte, und öfters abschlug, wenn man sie ihm früher darreichte, mit Anstand zu nehmen. Auch ließ er noch zuvor abgewelkte Blumen mit frischen vertauschen, die er alle bei Namen zu nennen wußte, und auf sein Tischlein stellen. Nachmittags begehrte er wieder ein Pfeifchen zu rauchen, und war heiter und ruhig. Da ihm seine Lippen geschwollen waren, bat er sich eine gläserne Röhre zum Trinken aus, und gab an, wo wir sie, da sie zu lang war, abnehmen sollten; damit war er mit dieser Art zu Trinken sehr zufrieden, und sagte scherzhaft: "Bei der gläsernen Röhre merken auch die Douanen im Halse nichts vom Trinken."
Gegen Abend schlummerte er wieder mehr, weßhalb auch weniger Freunde den Wunsch, ihn, den Verehrten, nochmals zu sehen, befriedigen konnten, weil ihn das öftere Bewegen an der Thür störte.
Als er einmal erwachte, sagte er zu seinen anwesenden Töchtern: "Immer meine ich, es wäre Morgen. Nun jenseits wird es sich wohl aufklären."
Wie seine zweite Tochter ihm einen Blumenstrauß von ihren Zöglingen, die er alle unaussprechlich liebte, mitbrachte mit den Worten: L[ieber].V[ater]. Diese Blumen schicken Ihnen die Kinder, erwiederte er mit seinem herzlichen Tone: "Die lieben Kinder! Sie sind auch wie die zarten Blumen, die sich willig entfalten, und der Sonne stille halten!"
Gegen sechs Uhr klagte er seinem freundschaftlichen Arzte von selbst alle seine Umstände, und fing noch ein Gespräch über die Güte des Trinkwassers von dem Herrnbrunnen in Baden=Baden mit demselben an. Bald darauf langte, den ehrwürdigen Vater nochmals zu sehen, sein ältester Sohn von Rastadt an, den er wegen des Paroxismus nicht gleich empfangen konnte, aber dem er nachher zurief: "Jetzt kannst du kommen!" Und als derselbe von der Vollendung der verklärten Mutter redete, erwiederte er: "Ja siehe, davon kann man nicht so reden; sie hat ausgelitten; und ich muß entweder noch fortwirken oder fortleiden!" Von einem Freunde, welcher Tags zuvor ihn noch sahe, redete er mit vieler Ehrfurcht und Liebe, und sagte: "Ich habe öfters Gelegenheit gehabt, ihn zu sehen; da hab ich viel von theosophischen Gegenständen, deren ganzes Reich er durchforscht hat, mit ihm gesprochen, und da lernte ich sein Herz kennen!"
Später sagte ich ihm, diese Maiblümchen (die auf seinem Tischchen standen) sind doch gar zu schön; worauf er in seinem muntern Sinn erwiederte: "Mir ist nichts zu schön;" und als seine zweite Tochter darnach zu ihm sagte: Ja, L. V. Sie werden bald noch ganz andere Schönheiten zu sehen kriegen! Entgegnete er: "Das kann man nicht wissen, nur fühlen!" Weiterhin sprach er: "Ich habe Euch alle so lieb, und doch wird mir die Trennung so leicht!" Als ihms ein ältester Sohn erwiederte: Das macht, weil Sie den Herrn so lieb haben, entwortete er: "Ja, das ist es!" Zu demselben sagte er später: "In deinem Glauben bleibe, der hat mich nie irre geführt, der wird auch dich treu leiten; und da wollen wir Alle anhalten!" Dann sagte er: "Bleibt nur in der Liebe, Ihr lieben Engel!" Und als ihm seine dritte Tochter entgegnete: Sie sind uner Engel, L. V., antwortete er: "Wir wollen es uns gegenseitig seyn!" Während dem nahte die Nachtzeit, und er legte ssich mehrmals, um zu schlafen; - überhaupt war sein ganzes Wesen ruhig. Sobald er erwachte und Veranlassung und Kraft zum Reden fand, that er es. – So sagte er einmal: "Wenn unser Erlöser das nur zu trinken gehabt hätte, was ich habe, dann wäre es noch gut für ihn gewesen: aber da haben sie ihm Essig gegeben, die Zunge heruasgestreckt, ihn verhöhnt, und er sprach: Vater! verzeih ihnen, sie wissen nicht, was sie thun; das war das größte Gebet, was je ausgesprochen worden." Und darauf betete er: "Vater, wenn es dein heiliger Wille ist, daß ich noch ferner hier bleibe, so gib mir auch Kraft, und ich will gern noch wirken und dulden!"
Nachher sagte seine dritte Tochter: Ach, was müssen Sie da so schlecht liegen; darauf erwiederte er: "Sag nur das doch nicht immer; unser Herr lag noch ganz anders da!" Späterhin, uns Alle um sich bemerkend, unsere traurenden Blicke auf ihn geheftet, sagte er: "Wenn Ihr mit mir sprechen wollt, so thut es doch!"
Als man ihm das Nachtlicht, das er sich gewöhnlich um die Schlafzeit kommen ließ, brachte, sagte er: "Ich brauche es nicht, ich reise die ganze Nacht!" Späterhin fuhr er fort: "Wenn man zur christlichen Gemeinde gehört, so muß nicht nur Mann und Weib, sondern auch alle Kinder in einem Punkte übereinstimmen; und das ist schrecklich schwer."
Gegen Morgen hatte er folgenden Traum, den er nach dem Erwachen seinem ältesten Sohne und der dritten Tochter erzählte: "Ich habe mich mit meiner seligen Gattin im Hauswesen thätig gefühlt; nachher ist mir der graue Mann, aber nicht der im Heimweh erschienen, und hat mich in Himmel geführt, und gesagt: Ich solle mich um meine Frau nichts bekümmern, dieser gehe es wohl; er selbst habe sie von einer Stufe der Vollendung zur andern geführt, aber ich müsse noch warten!" Nachher erklärte er: "Ach ich fühle eine unbeschreibliche Seelenruhe, die ihr mir bei meinem körperlichen Elend nicht ansehet!" Unterdessen stieg aber seine Schwäche, und es ward ihm schwer, anhaltende Worte zu reden, da schon vorher seiner Stimme die Stärke verloren, darum that er mehr abgebrochen Aeußerungen, als: "Eine völlige Hingabe an den Herrn," u. dergl. und hätte oft gerne fortgefahren, wenn es die Schwäche zugelassen haben würde.
Aber es stieg auch seine Ruhe und feierliche Stimmung zu immer höherem Grade, und in seiner Gegenwart konnte man nur beten. Da war es, als er sich kräftig fühlte, ein erhabenes hohepriesterliches Gebet auszusprechen, darine r zu Gott flehete: "Er möge seine Kinder alle in dem Glauben an Jesum Christum erhalten, sie als Reben am Weinstocke bewahren, daß er sie noch nach Jahrtausenden gleich einem Reisbündlein zusammengebunden, fände!"
Badl darauf an diesem Charmittwoch, den zweiten April, des Morgens gegen vier Uhr, als er fühlte, daß sein Ende herannahe und er hingehe zum Vater; - als er sich zu einer letzten feierlichen Handlung stark genug wußte, versammelte er uns Alle um sich her, und nachdem er uns in seiner gewöhnlichen Güte gefragt, ob wir nichts gegen sein jetziges Vorhaben hätten, das h. Abendmahl mit uns zu halten, und nachdem ihm sein ältester Sohn die Bedenklichkeiten darüber benommen, zumal in dieser nächtlichen Stunde nicht wohl der einzige Geistliche der reformirten Gemeinde zu Karlsruhe (damals war noch nirgends eine Evang. Kirchenvereingung vollzogen), auch ein ehrwürdiger Greis, herzu gerufen werden konnte, und als er auch unser Wohlgefallen und unsern Dank für dieß sein patriarchalisches Unterfangen erfahren hatte, ließ er uns knieen, entblößte sein Haupt, faltete die Hände, und mit aller Kraft des Geistes und und [sic] des Glaubens, welche sich in seiner Stimme nochmals ausdrückte, betete er ungefähr also: "Du, der du am Kreuze dein Blut für uns gabst, und Tod und Hölle überwandest, der auch da seinen Feinden verzieh, du göttlicher Versöhner! Vergieb uns auch jetzt, wenn wir uns unterwinden, hier Etwas vorzunehmen in unserer Schwachheit, was wir uns sonst nicht unterstehen würden!"
Alsdann nahm er den Teller, worauf er das Brod in Stücken gebrochen hatte, hielt zwei und zwei Finger kreuzweise darüber, sprach die gewöhnlichen Einsetzungsworte, und fuhr fort: "Und du, o Herr, segne auch diese Speise!" Darauf sagte er: "Nehmet hin, und esset, das ist sein Leib, der für unsere Sünden in den Tod gegeben worden!"
Und somit nahmen wir, im Geiste ergriffen, von der hohen Würde des christlichen Greises, der noch auf dem Sterbebette mit den Seinigen den Bund der Liebe feierte, das heilige Mahl. Und nachdem er den Wunsch geäußert: "Wenn doch jetzt auch unsere Heidelberger Kinder hier wären!" nahm er auch seinen gewöhnlichen Becher als Kelch, legte ebenfalls die Hände kreuzweise darüber, dankete und sprach nach den Einsetzungsworten: "Trinke Alle daraus, das ist der Kelch des Neuen Testaments in seinem Blute, welches für Euch und für Viele – und am Ende für Alle vergossen worden ist zur Vergebung der Sünden!" und als er zuletzt genommen, streckte er seine Hände zum Segen aus, und rief: "Der Herr sey mit Euch!"
Und nachdem er diese feierliche, erhabene Handlung, welcher er ohne Noth nicht unternommen hätte, weil er in Allem Ordnung, Brauch und Sitte ehrte und befolgte, nach rein evangelischen Grundsätzen als christlicher Patriarch auf dem Sterbebette beendigt, legte er sich zum Schlummer nieder, und es zeigte sich auf seinem schon damals verklärten Antlitze des Glaubenshelden erhabener Seelenfriede. Auch mochte er mit uns zweifeln, ob er noch den Tagesanbruch dieses Charmittwochs erlebte.
Von nun an stieg seine Schwäche mehr und mehr, und krampfhafte Empfindungen stellten sich ein, so daß wir öfters den Augenblick des Erstickens wahrzunehmen glaubten. Herzzerreißend war der Anblick des ehrwürdigen Greises, wenn ihm der Athem stockte, er seine Hände faltete, und seinen Blick zum Himmel hob, meinend, er werde nun der Lebensluft nie mehr genießen. Mehrmals hatten wir diesen ängstenden, für uns so schrecklichen Anblick des Erstickens; und wir konnten nur beten, Gott möge ihm den Heimgang erleichtern. Wenn sich dann der harte Anfall wiederholte, rief er aus: "Herr nimm mich auf deine ewige Hütte!" oder einmal, da es ihm schwer ward, das Athmen vor dem Wasser in der Brust zu erringen, breitete er die Arme nach oben, und rief: "Fort, fort!" Unterdessen ward sein lechzender trockener Gaumen durch labende Getränke fortwährend erquickt, und seine Liebe zur Reinlichkeit und Ordnung war bis ans Ende wahrzunehmen. Ein anderes Mal rief er in dem quälenden Kampfe: "Du Todesüberwinder, Kraft!" Alles dieß rief er aber mit schwacher jedoch bewegter Stimme; und mit seinen Blicken weilte er auf allen den Seinigen, die um sein Bett herstanden, und die sein hohes Beispiel der Geduld und des Geistes in diesem anhaltenden Todeskampfe nur zum Gebete antreiben konnte. Und wo sich das Eine oder das Andere von uns durch Dienstleistungen genöthigt fand, wegzugehen, und besorgt war, dem sterbenden Vater noch jegliches erquickende und stärkende Mittel darzureichen, sah er ihm ängstlich nach, und sagte einige Male: "Es geht keines weg!" So rang der ehrwürdige Greis mehrere Stunden um seine Vollendung, und es war, als wenn fernher Strahlen vom Reiche des Lichts sein erhabenes Antlitz umleuchteten, und ihm Kraft im Kampfe zuführten. Sah er uns dann trauernd um sich her stehen, und bemerkte er unser Leiden um ihn, so sagte er: "Habt Geduld!" Später am Vormittage sah er einen befreundeten Geistlichen durch die Thüre blicken, den er mit einem freundlichen Blicke begrüßte, und der an sein Bett trat, und seine Gedankn aussprach, als: "Derjenige, der dort am Kreuze litt, hilft Ihnen überwinden!" worauf er erwiederte: "Ja wohl, daran zweifle ich nicht!" Und als jener folgende ausgesprochen:
"Wie wird mir dann, Erlöser! seyn,
Wenn ich mich deiner ganz zu freun,
Dich dort anbeten werde!"
Antwortete er mit: "Ja und Amen!"
Aber es nahete allgemach der ernste traurige Augenblick heran. Der weitgeförderte Christ sollte den Kelch der Prüfungen gleich seinem Erlöser, zum herrlichen Glaubenszeugnisse vor der Welt, bis auf die Hefe trinken. – Und es war die Mitte der heiligen Woche. Mit seinem Heilande ging er dem Tode und der Vollendung entgegen. Da, sein von Liebe und Würde strahlendes Angesicht schauend, konnte man rufen: Tod, wo ist dein Stachel! Hölle, wo ist dein Sieg! Gott aber sey Dank, der ihm den Sieg verliehen durch seinen Herrn Jesum Christum!"
Immer suchte er uns, das Eine nach dem Andern, mit seinem lieblichen feierlichen Blicke, und rief einmal: "Haltet an im Gebet!" und wir unterließen es nicht.
Noch einige Male labte sich sein lechzender Gaumen durch kühlendes Getränke, bis er zuletzt sagte: "Laß gut seyn, es geht nicht mehr hinunter!" Mehrmals stammelte er in seinem krampfhaften Zustande Flehensworte zu dem Vollbringer, als: "Herr schneide den Lebensfaden ab!" dann: "Vater, nimm meinen Geist auf!" und jetzt glaubten wir den letzten Athemzug zu hören. Jedoch seine starke Natur ermannte sich noch ein wenig, er bereitete sich auf den bevorstehenden Stoß durch eine gestreckte Lage, und was er sonst für nöthig hielt, vor, dann heftete er seinen Blick auf die gegenüber hängende Madonna, und jetzt brach sich sein Auge, und er schloß es mit aller Gewalt der leiblichen und geistigen Stärke. Wir aber standen athemlos und hielten an im Gebet; und der Krampf verzog schrecklich des Duldenden Züge, Einmal, und zum zweiten Male schien es, als wollten böse Geister seine edle Miene verrücken; aber siehe da! Es traten die edlen Falten des erhabenen Antlitzes in ihre Würde und Freundlichkeit zurück, die himmlische Reinheit stellte sich vollkommner dar unsern starrenden Augen; und als um die Mittagszeit die Sonne am freundlichsten strahlte, stockte der Athem, und der Christ hatte überwunden; der Glaube war sein Sieg.
Die scheidende Seele ließ alle ihre Freundlichkeit, Reinheit und Würde der leiblichen Hülle zurück; diese blieb wie von Himmelsstrahlen verklärt. Christen vom niedersten bis zum höchsten weltlichen Stande weinten Thränen der tiefsten Wehmuth an dem geliebten Leichname, und baten Gott um gleiche Förderung im Glauben.
Auf Erden ist Trauer um den vollendeten Wohlthäter, Rathgeber, Freund und Vater ohne Gleichen, - Vater Stilling wird bis in die fernsten Lande hin beweint: aber im Himmel ist unter den Seligen Freude, und ewiger Lobgesang seiner Seele vor Gott.