Hormonell bedingtes Irresein in Marburg
„Ein ungestümer Brautwerber im Hause Jung-Stilling[s]“ fand sich im Jahr 1791 in Marburg ein. Es ist dies der Schwager des Dillenburger Johann Hermann Steubing (1750-1827), seit 1777 mit Christine Margarethe Dorothea Schraff, der Student bzw. Kandidat Schraff. Er wurde Jung-Stilling zum „dieser Satan meines Haußes“, der ihn auch ausrufen läßt: „Gott ich kann ihn nicht mehr schauen!“ Über diesen ungeheueren Vorfall, „diese verhaßte Afäre“, berichtet ausführlich Karl Heinrich Stamm 1997 in den Dillenburger Blättern.
Etwas später trug sich eine ähnliche Geschichte wiederum in Marburg zu: Ein Student ging mit dem Federmesser auf die ihn verschmähende Geliebte los und versuchte sich selbst zu töten.
Jung-Stilling berichtet wunschgemäß ausführlich am 1791-09-04 darüber an seine Tante Lubecca Elisabeth Wilhelmine Krafft geb. Duising (1740-1796) in Frankfurt. Er schreibt:
Sie verlangen beste Tante! die Wiederholdische Geschichte [Panthel liest „Anschrift“.] zu wissen: sie verhält sich folgendergestalt. Die Mamsell Wiederhold war mit einem jungen braven Menschen versprochen, der auswärts irgendwo Hofmeister ist, beyde wechselten Briefe zusammen, die Jungfer aber schrieb allmälig seltener, und endlich gar nicht mehr, denn ein Heydelberger Student logirte in ihrem Hauße, mit dem hatte sie sich eingelaßen. Der erste [Panthel liest „rechte“] Liebhaber kam also her um zu hören wie es stünde, er sezte die Jungfer zur Rede, sie war bestürzt, machte nun dem Heidelberger wegen seiner Verführung Vorwürfe, und dieser gerieth darüber so in Wuth und Verzweiflung daß er des Nachts auf ihr Zimmer stürzte, ihr ein Messer in den Leib stieß, und sich darauf auch verschiedene Stichte beybrachte. Zum Glück war das Meßer stumpf und nicht scharf, folglich war kein Stich tödlich; er aber war am schlimmsten zugerichtet, sie ward bald wieder besser, und er wurde relegirt; und auch er ist wieder vollkommen wohl.“
Der Editor, Panthel, Hans W[alter]., erläutert zwar die Fremdwörter, gibt zu ‚Wiederhold‘ jedoch nur den Hinweis: „Identität war nicht zu ermitteln.“ Hier irrt Panthel – und es gibt eine weitere Darstellung des Vorfalls.
Otto Gerland publizierte 1890 den Aufsatz „Aus dem Marburger Studentenleben vor hundert Jahren“ und läßt dort den Studenten „C. L. D.“ zu Wort kommen. Dieser schreibt Quasimodo, den 1791-06-01:
,„Den Sonntag, da wir hier ankamen, hat sich eine traurige Geschichte zugetragen. Ein hiesiger Student namens Pf., der im W.’schen Hause [=Wiederhold] wohnte, der nämlich der ehemals in Kassel beständig mit der weißen Kravatte, blauem Überrock und Tabaksbeutel herum ging, machte Cour bei einer von den Demoiselles W. Nun hatte diese aber einen älteren Liebhaber gehabt, der jetzt Kandidat war. Den Sonntag war also ihr Verlöbniß; das verdroß Pf. sehr, er ging also auf des Mädchens Stube, da er wußte, daß sie allein war, hielt es ihr vor und gab ihr und sich mit einem Federmesser verschiedene Stiche. Sie wurde leicht verwundet, er aber hat vier Tage auf den Tod gelegen. Dies wurde angezeigt und Pf. sogleich relegirt; ein Glück für ihn, daß ihm nach einigen Tagen seine Wunden zuließen, sich aus dem Staube zu machen, sonst hätte es gefährlich mit ihm werden können, denn er war bereits dem Kriminalgericht übergeben, nun ist er in Mainz und studiert daselbst.“
Aus anderen Veröffentlichungen Gerlands und anderen Quellen lassen sich die Personen identifizieren:
Carl Ludwig Dury ist der sich Immatrikulierende, den die Matrikel so vermerkt:
Dury, Carolus Ludwig, Kassel .--.1692 ; Marburg 06.05.1791 (Nr. 19; Prorektor: K. W. Robert) auch Du Ry.
Vor dem 1791-06-01 reiste Charles Louis / Carl Ludwig Dury ( Du Ry) mit der Postkutsche vom heimatlichen Kassel zur Immatrikulation nach Marburg. In der Postkutsche traf er eine Frau aus Kassel, die sich vom „Hofrat Jung“ - d. h. Jung-Stilling - den „Staar operiren lassen“ will. In Waber stiegen noch drei Marburger Studenten zu, die von einer „Geniereise“ nach Göttingen zurückkehren.
So handelt es sich um Karl Ludwig / Charles Louis Du Ry, geb. Kassel 1771, gest. Neapel 8.11.1797; 17.10.1792 stud. cam.; 1795 mit Stipendium der Kasseler Société des Antiquité Reise nach Italien, dort am Faulfieber gestorben; sein Stammbuch aus den Jahren 1791-1794 befindet sich in Kassel; vielleicht enthält es Einträge Jung-Stillings.
Johann Heinrich Wiederholt/Wiederhold (imm. 3.04.1765; gest. 21.11.1813; mehrfach Bürgermeister) war verh. mit Friederica Carolina Dörr (T. d. zu Mannheim verstorbenen Kurpf. Ehegerichtsrats Lt. Johann Christian Dörr; gest. im Alter von 56 Jahren am 1.04.1805) das Ehepaar hatte in 30 Jahren 12 Kinder, darunter 4 Mädchen. Welche der beiden mag hier betroffen gewesen sein?
- Helena Catharine, geb. 3.06.1773;
- Helena Maria, geb. 13.06.1778;
- Caroline Friederica, geb. 23.04.1787, gest. 12.03.1789;
- Caroline Friederica, geb. 28.01.1791.
Ein Sohnsoll genannt sein: Christian Wiederhold geb. Marburg 18.01.1775; der von sich sagt: „Nachdem ich auch in den Kameralwissenschaften einige Kenntnisse bei dem Hofrathe und Prof. Jung eingesammelt hatte, nahm ich im J. 1795“ den Dr. iur. an.