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1815-02-03 schreibt Jung-Stilling aus Karlsruhe an seinen Sohn:


„Goethe ist noch immer der Nämliche, er resprectirt das Christenthum. Er bekommt aber immer einen elektrischen Schlag, so oft er es berührt. Dies schreckt ihn ab. Er sollte sich doch endlich einmal auf das Isolatorium setzen, dann würde es besser gehen, aber das mag er nicht, er mag lieber spazieren gehen. Seine mir übersandten Verse sind unter aller Kritik; aber so ist er, und so war er, er weiss, dass alles was von ihm ausgeht, als ein Meisterwerk angestaunt wird."
     

Goethes Würdigungen Jung-Stillings

Siehe: Wetters,Kirk (1973-): Demonic history: from Goethe to the present. Evanston, Illinois: Northwestern University Press, 2014. ISBN 9780810129764; 0810129760; 0810167646; 9780810167643, S. 80 ff.: The Story of Jung-Stilling.

 Einleitung
Xenien
Faust 
Wahlverwandtschaften
 
Dichtung und Wahrheit 
     Zweyter Theil, Neuntes Buch
     Zweyter Theil, Zehntes Buch
     Dritter Theil, Vierzehntes Buch
     Vierter Theil, Sechzehntes Buch (die Operation an Heinrich Ludwig von Lersner)
 
Johann Peter Eckermann: Gespräche mit Goethe
 

  
Über Goethes und Jung-Stillings Verhältnis zueinander haben ausführlich gearbeitet Gerhard Schwinge und letztlich Gustav Adolf Benrath. Den Hinweis auf Goethe durch Jung-Stillings Schwiegersohn Friedrich Heinrich Christian Schwarz findet man hier in dessen Nachwort zur LG, Goethes Äußerungen über Jung-Stilling dagegen im folgenden Text.
 
Bisher wurde das obige Zitat vom 3. Februar 1815 noch nie in der Literatur verwendet.
 
 
 
 
1797 erschienen in Schillers "Musenalmanach" die "Xenien". Mit einem Xenion hat Goethe wahrscheinlich Jung-Stilling gemeint:
 
"Auf das empfindsame Volk hab' ich nie was gehalten; es werden,
Kommt die Gelegenheit, nur schlechte Gesellen draus. G."
 
 
Ein anderes Xenion ist dagegen ungewiss; (es könnte auch Hofrat Schütz statt "Heinrich Stilling" sein).
 
"H. S.
Nennt mir den Mann nicht anders, als ehrfurchtsvoll!
      Güte des Herzens
Und ein vortrefflicher Kopf machen die Ehre ihm werth."
 
Nach: Eduard Boas: Schiller und Goethe im Xenienkampf. Erster Theil. [und:] Zweiter Theil. Stuttgart und Tübingen: Cotta 1851. Bd. 1, S. 58, Nr. 19; bzw. Bd. 2, S. 97.
  
 
Im "Faust" finden sich auch Anklänge an Jung-Stillings "Theorie der Geister=Kunde" (Faust I, Paralipomena):
"Stilling:

  
Das Geisterreich, hier kommts zur Schau,
Den Gläubigen ersprießlich;
Doch find ich nicht die weiße Frau,
So bin ich doch verdrießlich.
Gräfin:
Der weißen Frauen giebts genug
Für ächte Weiberkenner;
Doch sage mir, mein lieber Jung,
Wo sind die weisen Männer?"

   
 
Auch in Goethes "Wahlverwandtschaften" wird Jung indirekt genannt.      
Jung schreibt einmal über solche "Verwandtschaften":

  
"Es gibt eine gewisse Sympathie der Geister, die gleich einem Magnete anzieht, und diese besteht in ähnlichen Empfindungen. Gewisse maleriche Scenen der Natur wirken auf solche Seelen mit gleicher Kraft, sie verstehen sich dann, ohne zu reden; ein Geist fließt ohne ein Wort in den andern über. Historische Gegenstände, empfindliche Geschichten, rührende Schicksale, thun gleiche Wirkung auf solche Herzen; sie schmelzen zusammen und erzeugen den höchsten Grad der Freundschaft, der zwischen Menschen in diesem Leben möglich ist."

   
Die / Wahlverwandtschaften. / - / Ein Roman / von / Goethe. / - / Erster Theil. / - / Tübingen, / in der J. G. Cottaischen Buchhandlung. / 1809. S. 302 f. liest man:

   
"Versteh' ich Sie recht? fiel Mittler ein – Vollkommen, versetzte Charlotte – Tausendmal gesegnet sey mir diese Nachricht! rief er, die Hände zusammenschlagend. Ich kenne die Stärke dieses Arguments auf ein männliches Gemüth. Wie viele Heiraten sah ich dadurch beschleunigt, befestigt, wieder hergestellt! Mehr als tausend Worte wirkt eine solche gute Hoffnung, die fürwahr die beste Hoffnung ist die wir haben können. Doch, fuhr er fort, was mich betrifft, so hätte ich alle Ursache verdrießlich zu seyn. In diesem Falle, sehe ich wohl, wird meine Eigenliebe nicht geschmeichelt. Bey Euch kann meine Thätigkeit keinen Dank verdienen. Ich komme [S. 303:] mir vor, wie jener Arzt, mein Freund, dem alle Kuren gelangen, die er um Gottes willen an Armen that, der aber selten einen Reichen heilen konnte, der es gut bezahlen wollte. Glücklicherweise hilft sich hier die Sache von selbst, da meine Bemühunhen, mein Zureden fruchtlos geblieben wären."

 
Siehe dazu:

Carl F[rederick]. Schreiber: Mittler - Jung-Stilling. Ein Vorbild zu den 'Wahlverwandtschaften'. – In: Archiv für das Studium der neueren Sprachen und Literaturen. Begr. v. Ludwig Herrig. Hrsg. v. Alois Brandl u. Oskar Schultz-Gora. 79. Jg., 147. Bd., der Neuen Serie Bd. 47, Braunschweig u. Berlin: Westermann 1924, H. 3-4, November 1924, S. 177-193.

 
Vgl. dazu auch Timothy F. Sellner: The Eheeiferer in Goethe’s Wahlverwandtschaften: Could Mittler be Hippel? – In: Königsberg. Beiträge zu einem besonderen Kapitel der deutschen Geistesgeschichte des 18. Jahrhunderts. Begr. u. hrsg. von Joseph Kohnen. Frankfurt am Main usw.: Lang 1994 (ISBN3-631-47313-3), S. 321-334. (Schreibers Aufsatz ist hier nicht zitiert.)
1998 fand im Berliner Karl-Abraham-Institut ein Symposium statt.
 

Hermann "Beland machte noch einen Psychotiker im Roman aus, nämlich Mittler, den Ehefanatiker, der das gesellschaftliche Vorurteil über Scheidungen vertrete und sozusagen der McCarthy der Romangesellschaft sei. Einerseits die unmodernste Figur, werde er andererseits funktional zur modernsten: 'Er verkörpert die Ideologie seiner Gesellschaft, aber zugleich die Funktion herrschender Vorurteile jeder Gesellschaft.'" [Joseph Raymond McCarthy (1908-1957), amerikanischer Politiker, der zu Beginn der fünfziger Jahre die Kampagne gegen die angebliche kommunistische Unterwanderung der Verwaltung und anderer Bereiche des öffentlichen Lebens leitete („McCarthyismus“)]

(Text nach Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 252, Freitag, 30. Oktober 1998, S. 44, Sp. 1-3, hier bes. Sp. 3: Caroline Neubaur: Prämoderne Menschen, so wie wir / Ein Symposium des Berliner Karl-Abraham-Instituts zu Goethes "Wahlverwandtschaften".)

   
   
Besonders aber ist Jung-Stilling vermerkt in Goethes

"Aus meinem Leben / [eL 12 mm] - / Dichtung und Wahrheit. / Von / Goethe. / - [L 63 mm] - / Zweyter Theil. / [L 10 mm] - / Was man in der Jugend wünscht, das hat man im Alter die Fülle. / [eL 63 mm] - / Tübingen, / in der J. G. Cottaischen Buchhandlung. / 1812." und den folgenden Bänden.

Zu dieser Publikation hat sich Jung-Stilling am 27. Dezember 1814 etwas enttäuscht (?) geäußert. Seine Kinder und Verwandten haben dagegen ihren Dank dafür abgestattet. Also folgen hier die Texte aus Goethes Werk.

Siehe dazu: Goethe. Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Historisch-kritische Ausgabe bearb. v. Siegfried Scheibe. Bd. 1: Text. Bd. 2: Überlieferung, Variantenverzeichnis und Paralipomena. Berlin (Ost): Akademie 1970 bzw. 1974 = Hrsg. v. d. Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin; S. 308 f.; 344 f.; 516 f.; 562-567 sowie die entsprechenden Stellen in Bd. 2.

   
Dichtung und Wahrheit, Zweyter Theil, Neuntes Buch:

  
Bei meiner Art zu empfinden und zu denken kostete es mich gar nichts, einen jeden gelten zu lassen für das, was er war, ja sogar für das, was er gelten wollte, und so machte die Offenheit eines frischen jugendlichen Mutes, der sich fast zum erstenmal in seiner vollen Blüte hervortat, mir sehr viele Freunde und Anhänger. Unsere Tischgesellschaft vermehrte sich wohl auf zwanzig Personen, und weil unser Salzmann bei seiner hergebrachten Methode beharrte; so blieb alles im alten Gange, ja die Unterhaltung ward beinahe schicklicher, indem sich ein jeder vor mehreren in acht zu nehmen hatte. Unter den neuen Ankömmlingen befand sich ein Mann, der mich besonders interessierte; er hieß Jung, und derselbe, der nachher unter dem Namen Stilling zuerst bekannt geworden. Seine Gestalt, ungeachtet einer veralteten Kleidungsart, hatte, bei einer gewissen Derbheit, etwas Zartes. Eine Haarbeutelperücke entstellte nicht sein bedeutendes und gefälliges Gesicht. Seine Stimme war sanft, ohne weich und schwach zu sein, ja sie wurde wohltönend und stark, sobald er in Eifer geriet, welches sehr leicht geschah. Wenn man ihn näher kennen lernte, so fand man an ihm einen gesunden Menschenverstand, der auf dem Gemüt ruhte, und sich deswegen von Neigungen und Leidenschaften bestimmen ließ, und aus eben diesem Gemüt entsprang ein Enthusiasmus für das Gute, Wahre, Rechte in möglichster Reinheit. Denn der Lebensgang dieses Mannes war sehr einfach gewesen und doch gedrängt an Begebenheiten und mannigfaltiger Tätigkeit. Das Element seiner Energie war ein unverwüstlicher Glaube an Gott und an eine unmittelbar von daher fließende Hülfe, die sich in einer ununterbrochenen Vorsorge und in einer unfehlbaren Rettung aus aller Not, von jedem Übel augenscheinlich bestätige. Jung hatte dergleichen Erfahrungen in seinem Leben so viele gemacht, sie hatten sich selbst in der neuern Zeit, in Straßburg, öfters wiederholt, so daß er mit der größten Freudigkeit ein zwar mäßiges aber doch sorgloses Leben führte und seinen Studien aufs ernstlichste oblag, wiewohl er auf kein sicheres Auskommen von einem Vierteljahre zum andern rechnen konnte. In seiner Jugend, auf dem Wege Kohlenbrenner zu werden, ergriff er das Schneiderhandwerk, und nachdem er sich nebenher von höheren Dingen selbst belehrt, so trieb ihn sein lehrlustiger Sinn zu einer Schulmeisterstelle. Dieser Versuch mißlang, und er kehrte zum Handwerk zurück, von dem er jedoch zu wiederholten Malen, weil jedermann für ihn leicht Zutrauen und Neigung faßte, abgerufen ward, um abermals eine Stelle als Hauslehrer zu übernehmen. Seine innerlichste und eigentlichste Bildung aber hatte er jener ausgebreiteten Menschenart zu danken, welche auf ihre eigne Hand ihr Heil suchten, und, indem sie sich durch Lesung der Schrift und wohlgemeinter Bücher, durch wechselseitiges Ermahnen und Bekennen zu erbauen trachteten, dadurch einen Grad von Kultur erhielten, der Bewunderung erregen mußte. Denn indem das Interesse, das sie stets begleitete und das sie in Gesellschaft unterhielt, auf dem einfachsten Grunde der Sittlichkeit, des Wohlwollens und Wohltuns ruhte, auch die Abweichungen, welche bei Menschen von so beschränkten Zuständen vorkommen können, von geringer Bedeutung sind, und daher ihr Gewissen meistens rein und ihr Geist gewöhnlich heiter blieb: so entstand keine künstliche, sondern eine wahrhaft natürliche Kultur, die noch darin vor andern den Vorzug hatte, daß sie allen Altern und Ständen gemäß und ihrer Natur nach allgemein gesellig war; deshalb auch diese Personen, in ihrem Kreise, wirklich beredt und fähig waren, über alle Herzensangelegenheiten, die zartesten und tüchtigsten, sich gehörig und gefällig auszudrücken. In demselben Falle nun war der gute Jung. Unter wenigen, wenn auch nicht gerade Gleichgesinnten, doch solchen, die sich seiner Denkweise nicht abgeneigt erklärten, fand man ihn nicht allein redselig, sondern beredt; besonders erzählte er seine Lebensgeschichte auf das unmutigste, und wußte dem Zuhörer alle Zustände deutlich und lebendig zu vergegenwärtigen. Ich trieb ihn, solche aufzuschreiben, und er versprach's. Weil er aber in seiner Art sich zu äußern einem Nachtwandler glich, den man nicht anrufen darf, wenn er nicht von seiner Höhe herabfallen, einem sanften Strom, dem man nichts entgegenstellen darf, wenn er nicht brausen soll; so mußte er sich in größerer Gesellschaft oft unbehaglich fühlen. Sein Glaube duldete keinen Zweifel und seine Überzeugung keinen Spott. Und wenn er in freundlicher Mitteilung unerschöpflich war; so stockte gleich alles bei ihm, wenn er Widerspruch erlitt. Ich half ihm in solchen Fällen gewöhnlich über, wofür er mich mit aufrichtiger Neigung belohnte. Da mir seine Sinnesweise nichts Fremdes war und ich dieselbe vielmehr an meinen besten Freunden und Freundinnen schon genau hatte kennen lernen, sie mir auch in ihrer Natürlichkeit und Naivetät überhaupt wohl zusagte; so konnte er sich mit mir durchaus am besten finden. Die Richtung seines Geistes war mir angenehm, und seinen Wunderglauben, der ihm so wohl zustatten kam, ließ ich unangetastet. Auch Salzmann betrug sich schonend gegen ihn; schonend, sage ich, weil Salzmann, seinem Charakter, Wesen, Alter und Zuständen nach, auf der Seite der vernünftigen, oder vielmehr verständigen Christen stehen und halten mußte, deren Religion eigentlich auf der Rechtschaffenheit des Charakters und auf einer männlichen Selbständigkeit beruhte, und die sich daher nicht gern mit Empfindungen, die sie leicht ins Trübe, und Schwärmerei, die sie bald ins Dunkle hätte führen können, abgaben und vermengten. Auch diese Klasse war respektabel und zahlreich; alle ehrliche tüchtige Leute verstanden sich und waren von gleicher Überzeugung sowie von gleichem Lebensgang.

   
 
Dichtung und Wahrheit, Zweyter Theil, Zehntes Buch:

 
Daß übrigens Herders Anziehungskraft sich so gut auf andre als auf mich wirksam erwies, würde ich kaum erwähnen, hätte ich nicht zu bemerken, daß sie sich besonders auf Jung, genannt Stilling, erstreckt habe. Das treue redliche Streben dieses Mannes mußte jeden, der nur irgend Gemüt hatte, höchlich interessieren, und seine Empfänglichkeit jeden, der etwas mitzuteilen imstande war, zur Offenheit reizen. Auch betrug sich Herder gegen ihn nachsichtiger als gegen uns andre: denn seine Gegenwirkung schien jederzeit mit der Wirkung, die auf ihn geschah, im Verhältnis zu stehn. Jungs Umschränktheit war von so viel gutem Willen, sein Vordringen von so viel Sanftheit und Ernst begleitet, daß ein Verständiger gewiß nicht hart gegen ihn sein, und ein Wohlwollender ihn nicht verhöhnen noch zum besten haben konnte. Auch war Jung durch Herdern dergestalt exaltiert, daß er sich in allem seinen Tun gestärkt und gefördert fühlte, ja seine Neigung gegen mich schien in eben diesem Maße abzunehmen; doch blieben wir immer gute Gesellen, wir trugen einander vor wie nach und erzeigten uns wechselseitig die freundlichsten Dienste.

   
 
Dichtung und Wahrheit, Dritter Theil, Vierzehntes Buch:

  
Die schöne Ruhe, Behaglichkeit und Beharrlichkeit, welche den Hauptcharakter dieses Familienvereins bezeichneten, belebten sich gar bald vor den Augen des Gastes, indem er wohl bemerken konnte, daß ein weiter Wirkungskreis von hier ausging und anderwärts eingriff. Die Tätigkeit und Wohlhabenheit benachbarter Städte und Ortschaften trug nicht wenig bei, das Gefühl einer inneren Zufriedenheit zu erhöhen. Wir besuchten Elberfeld und erfreuten uns an der Rührigkeit so mancher wohlbestellten Fabriken. Hier fanden wir unsern Jung, genannt Stilling, wieder, der uns schon in Koblenz entgegengekommen war, und der den Glauben an Gott und die Treue gegen die Menschen immer zu seinem köstlichen Geleit hatte. Hier sahen wir ihn in seinem Kreise und freuten uns des Zutrauens, das ihm seine Mitbürger schenkten, die, mit irdischem Erwerb beschäftigt, die himmlischen Güter nicht außer acht ließen. Die betriebsame Gegend gab einen beruhigenden Anblick, weil das Nützliche hier aus Ordnung und Reinlichkeit hervortrat. Wir verlebten in diesen Betrachtungen glückliche Tage. 

(Siehe auch den Hinweis des Goethe-Museums Düsseldorf, Anton-und-Katharina-Kippenberg-Stiftung, Schloss Jägerhof, Jacobistraße 2, 40211 Düsseldorf, Tel 0211/899 62 62, zu diesem Text unter http://www.goethe-museum.com/deutsch/Register/06/6-017.html.)

  

  Dichtung und Wahrheit, Vierter Theil, Sechzehntes Buch:

  
Goethes Darstellung ist nicht korrekt, wie Jung-Stillings erhaltener Operationsbericht Nr. 17 zu Hofmarschall Heinrich Ludwig von Lersner zeigt. Der unglückliche Ausgang dieser Operation war "Folge einer schweren postoperativen, nicht beherrschbaren Augenentzündung mit Ecchymosis; sie beruhte keineswegs auf operativem Mißgeschick."

  
Siehe: Johann Heinrich Jung–Stilling: Geschichte meiner Staar Curen und Heylung anderer Augenkrankheiten hrsg. sowie mit einer Einführung und Anmerkungen versehen v. Gerhard Berneaud–Kötz. Siegen: Jung–Stilling–Gesellschaft (1992), S. 57 ff., hier S. 58 zitiert, und S. 82 f. mit Protokoll Nr. 17 mit Anm. dazu S. 125 f.

  
Im Anfang des Jahres 1775 meldete Jung, nachher Stilling genannt, vom Niederrhein, daß er nach Frankfurt komme, berufen, eine bedeutende Augenkur daselbst vorzunehmen; er war mir und meinen Eltern willkommen, und wir boten ihm das Quartier an.
Herr von Lersner, ein würdiger Mann in Jahren, durch Erziehung und Führung fürstlicher Kinder, verständiges Betragen bei Hof und auf Reisen überall geschätzt, erduldete schon lange das Unglück einer völligen Blindheit, doch konnte seine Sehnsucht nach Hülfe nicht ganz erlöschen. Nun hatte Jung seit einigen Jahren mit gutem Mut und frommer Dreistigkeit viele Staroperationen am Niederrhein vollbracht und sich dadurch einen ausgebreiteten Ruf erworben; Redlichkeit seiner Seele, Zuverlässigkeit des Charakters und reine Gottesfurcht bewirkten ihm ein allgemeines Zutrauen, dieses verbreitete sich stromaufwärts auf dem Wege vielfacher Handelsverbindungen. Herr von Lersner und die Seinigen, beraten von einem einsichtigen Arzte, entschlossen sich, den glücklichen Augenarzt kommen zu lassen, wenn schon ein Frankfurter Kaufmann, an dem die Kur mißglückt war, ernstlich abriet; aber was bewies auch ein einzelner Fall gegen so viele gelungene! Doch Jung kam, nunmehr angelockt durch eine bedeutende Belohnung, deren er gewöhnlich bisher entbehrt hatte; er kam, seinen Ruf zu vermehren, getrost und freudig, und wir wünschten uns Glück zu einem so wackern und heitern Tischgenossen.
Nach mehreren ärztlichen Vorbereitungen ward nun endlich der Star auf beiden Augen gestochen; wir waren höchst gespannt, es hieß, der Patient habe nach der Operation sogleich gesehen, bis der Verband das Tageslicht wieder abgehalten. Allein es ließ sich bemerken, daß Jung nicht heiter war und daß ihm etwas auf dem Herzen lag; wie er mir denn auch auf weiteres Nachforschen bekannte, daß er wegen Ausgang der Kur in Sorgen sei. Gewöhnlich, und ich hatte selbst in Straßburg mehrmals zugesehen, schien nichts leichter in der Welt zu sein, wie es denn auch Stillingen hundertmal gelungen war. Nach vollbrachtem schmerzlosen Schnitt durch die unempfindliche Hornhaut sprang bei dem gelindesten Druck die trübe Linse von selbst heraus, der Patient erblickte sogleich die Gegenstände und mußte sich nur mit verbundenen Augen gedulden, bis eine vollbrachte Kur ihm erlaubte, sich des köstlichen Organs nach Willen und Bequemlichkeit zu bedienen. Wie mancher Arme, dem Jung dieses Glück verschafft, hatte dem Wohltäter Gottessegen und Belohnung von oben herabgewünscht, welche nun durch diesen reichen Mann abgetragen werden sollte.
Jung bekannte, daß es diesmal so leicht und glücklich nicht hergegangen: die Linse sei nicht herausgesprungen, er habe sie holen und zwar, weil sie angewachsen, ablösen müssen; dies sei nun nicht ohne einige Gewalt geschehen. Nun machte er sich Vorwürfe, daß er auch das andere Auge operiert habe. Allein man hatte sich so fest vorgesetzt, beide zugleich vorzunehmen, an eine solche Zufälligkeit hatte man nicht gedacht und, da sie eingetreten, sich nicht sogleich erholt und besonnen. Genug, die zweite Linse kam nicht von selbst, sie mußte auch mit Unstatten abgelöst und herausgeholt werden.
Wie übel ein so gutmütiger, wohlgesinnter, gottesfürchtiger Mann in einem solchen Falle dran sei, läßt keine Beschreibung noch Entwicklung zu; etwas Allgemeines über eine solche Sinnesart steht vielleicht hier am rechten Platze.
Auf eigene moralische Bildung loszuarbeiten, ist das Einfachste und Tulichste, was der Mensch vornehmen kann; der Trieb dazu ist ihm angeboren; er wird durch Menschenverstand und Liebe dazu im bürgerlichen Leben geleitet, ja gedrängt.
Stilling lebte in einem sittlich religiosen Liebesgefühl; ohne Mitteilung, ohne guten Gegenwillen konnte er nicht existieren, er forderte wechselseitige Neigung; wo man ihn nicht kannte, war er still, wo man den Bekannten nicht liebte, war er traurig; deswegen befand er sich am besten mit solchen wohlgesinnten Menschen, die in einem beschränkten ruhigen Berufskreise mit einiger Bequemlichkeit sich zu vollenden beschäftigt sind.
Diesen gelingt nun wohl, die Eitelkeit abzutun, dem Bestreben nach äußerer Ehre zu entsagen, Behutsamkeit im Sprechen sich anzueignen, gegen Genossen und Nachbarn ein freundliches gleiches Betragen auszuüben.
Oft liegt hier eine dunkle Geistesform zum Grunde, durch Individualität modifiziert; solche Personen, zufällig angeregt, legen große Wichtigkeit auf ihre empirische Laufbahn, man hält alles für übernatürliche Bestimmung, mit der Überzeugung, daß Gott unmittelbar einwirke.
Dabei ist im Menschen eine gewisse Neigung, in seinem Zustand zu verharren, zugleich aber auch sich stoßen und führen zu lassen, und eine gewisse Unentschlossenheit, selbst zu handeln; diese vermehrt sich, bei Mißlingen der verständigsten Plane, sowie durch zufälliges Gelingen günstig zusammentreffender unvorhergesehener Umstände.
Wie nun durch eine solche Lebensweise ein aufmerksames männliches Betragen verkümmert wird, so ist die Art, in einen solchen Zustand zu gelangen, gleichfalls gefährlich.
Wovon sich nun solche Sinnesverwandten am liebsten unterhalten, sind die sogenannten Erweckungen, Sinnesänderungen, denen wir ihren psychologischen Wert nicht absprechen. Es sind eigentlich, was wir in wissenschaftlichen und poetischen Angelegenheiten Aperçus nennen: das Gewahrwerden einer großen Maxime, welches immer eine genialische Geistesoperation ist; man kommt durch Anschauen dazu, weder durch Nachdenken noch durch Lehre oder Überlieferung. Hier ist es das Gewahrwerden der moralischen Kraft, die im Glauben ankert und so in stolzer Sicherheit mitten auf den Wogen sich empfinden wird. Ein solches Aperçu gibt dem Entdecker die größte Freude, weil es auf originelle Weise nach dem Unendlichen hindeutet, es bedarf keiner Zeitfolge zur Überzeugung, es entspringt ganz und vollendet im Augenblick; daher das gutmütige altfranzösische Reimwort:
En peu d'heure
Dieu labeure.
Äußere Anstöße bewirken oft das gewaltsame Losbrechen solcher Sinnesänderung, man glaubt Zeichen und Wunder zu schauen.
Zutrauen und Liebe verband mich aufs herzlichste mit Stilling; ich hatte doch auch gut und glücklich auf seinen Lebensgang eingewirkt, und es war ganz seiner Natur gemäß, alles, was für ihn geschah, in einem dankbaren feinen Herzen zu behalten; aber sein Umgang war mir in meinem damaligen Lebensgange weder erfreulich noch förderlich. Zwar überließ ich gern einem jeden, wie er sich das Rätsel seiner Tage zurechtlegen und ausbilden wollte, aber die Art, auf einem abenteuerlichen Lebensgange alles, was uns vernünftigerweise Gutes begegnet, einer unmittelbaren göttlichen Einwirkung zuzuschreiben, schien mir doch zu anmaßlich, und die Vorstellungsart, daß alles, was aus unserm Leichtsinn und Dünkel, übereilt oder vernachlässigt, schlimme, schwer zu übertragende Folgen hat, gleichfalls für eine göttliche Pädagogik zu halten, wollte mir auch nicht in den Sinn. Ich konnte also den guten Freund nur anhören, ihm aber nichts Erfreuliches erwidern; doch ließ ich ihn, wie so viele andere, gern gewähren und schützte ihn später wie früher, wenn man, gar zu weltlich gesinnt, sein zartes Wesen zu verletzen sich nicht scheute. Daher ich ihm auch den Einfall eines schalkischen Mannes nicht zu Ohren kommen ließ, der einmal ganz ernsthaft ausrief: "Nein! fürwahr, wenn ich mit Gott so gut stünde wie Jung, so würde ich das höchste Wesen nicht um Geld bitten, sondern um Weisheit und guten Rat, damit ich nicht so viel dumme Streiche machte, die Geld kosten und elende Schuldenjahre nach sich ziehen."
Denn freilich war zu solchem Scherz und Frevel jetzt nicht die Zeit. Zwischen Furcht und Hoffnung gingen mehrere Tage hin; jene wuchs, diese schwand und verlor sich gänzlich; die Augen des braven geduldigen Mannes entzündeten sich, und es blieb kein Zweifel, daß die Kur mißlungen sei.
Der Zustand, in den unser Freund dadurch geriet, läßt keine Schilderung zu; er wehrte sich gegen die innerste tiefste Verzweiflung von der schlimmsten Art. Denn was war nicht in diesem Falle verloren! zuvörderst der größte Dank des zum Lichte wieder Genesenen, das Herrlichste, dessen sich der Arzt nur erfreuen kann, das Zutrauen so vieler andern Hülfsbedürftigen, der Kredit, indem die gestörte Ausübung dieser Kunst eine Familie im hülflosen Zustande zurückließ. Genug, wir spielten das unerfreuliche Drama Hiobs von Anfang bis zu Ende durch, da denn der treue Mann die Rolle der scheltenden Freunde selbst übernahm. Er wollte diesen Vorfall als Strafe bisheriger Fehler ansehen; es schien ihm, als habe er die ihm zufällig überkommenen Augenmittel frevelhaft als göttlichen Beruf zu diesem Geschäft betrachtet; er warf sich vor, dieses höchst wichtige Fach nicht durch und durch studiert, sondern seine Kuren nur so obenhin auf gut Glück behandelt zu haben; ihm kam augenblicklich vor die Seele, was Mißwollende ihm nachgeredet; er geriet in Zweifel, ob dies auch nicht Wahrheit sei, und dergleichen schmerzte um so tiefer, als er sich den für fromme Menschen so gefährlichen Leichtsinn, leider auch wohl Dünkel und Eitelkeit, in seinem Lebensgange mußte zuschulden kommen lassen. In solchen Augenblicken verlor er sich selbst, und wie wir uns auch verständigen mochten, wir gelangten doch nur zuletzt auf das vernünftig-notwendige Resultat: daß Gottes Ratschlüsse unerforschlich seien.
In meinem vorstrebend heitern Sinne wäre ich noch mehr verletzt gewesen, hätte ich nicht, nach herkömmlicher Weise, diese Seelenzustände ernster freundlicher Betrachtung unterworfen und sie mir nach meiner Weise zurecht gelegt; nur betrübte es mich, meine gute Mutter für ihre Sorgfalt und häusliche Bemühung so übel belohnt zu sehen; sie empfand es jedoch nicht bei ihrem unablässig tätigen Gleichmut. Der Vater dauerte mich am meisten. Um meinetwillen hatte er einen streng geschlossenen Haushalt mit Anstand erweitert und genoß besonders bei Tisch, wo die Gegenwart von Fremden auch einheimische Freunde und immer wieder sonstige Durchreisende heranzog, sehr gern eines muntern, ja paradoxen Gespräches, da ich ihm denn, durch allerlei dialektisches Klopffechten, großes Behagen und ein freundliches Lächeln bereitete: denn ich hatte die gottlose Art, alles zu bestreiten, aber nur insofern hartnäckig, daß derjenige, der recht behielt, auf alle Fälle lächerlich wurde. Hieran war nun in den letzten Wochen gar nicht zu denken, denn die glücklichsten heitersten Ereignisse, veranlaßt durch wohlgelungene Nebenkuren des durch die Hauptkur so unglücklichen Freundes, konnten nicht greifen, viel weniger der traurigen Stimmung eine andere Wendung geben.
Denn so machte uns im einzelnen ein alter blinder Betteljude aus dem Isenburgischen zu lachen, der, in dem höchsten Elend nach Frankfurt geführt, kaum ein Obdach, kaum eine kümmerliche Nahrung und Wartung finden konnte, dem aber die zähe orientalische Natur so gut nachhalf, daß er, vollkommen und ohne die mindeste Beschwerde, sich mit Entzücken geheilt sah. Als man ihn fragte: ob die Operation geschmerzt habe? so sagte er nach der hyperbolischen Weise: "Wenn ich eine Million Augen hätte, so wollte ich sie jedesmal für ein halb Kopfstück, sämtlich, nach und nach operieren lassen." Bei seinem Abwandern betrug er sich in der Fahrgasse ebenso exzentrisch, er dankte Gott auf gut alttestamentlich, pries den Herren und den Wundermann, seinen Gesandten. So schritt er, in dieser langen gewerbreichen Straße, langsam der Brücke zu. Verkäufer und Käufer traten aus den Läden heraus, überrascht durch einen so seltenen frommen, leidenschaftlich vor aller Welt ausgesprochenen Enthusiasmus; alle waren angeregt zur Teilnahme, dergestalt daß er, ohne irgend zu fordern oder zu heischen, mit reichlichen Gaben zur Wegezehrung beglückt wurde.
Eines solchen heitern Vorfalls durfte man in unserm Kreise aber kaum erwähnen; denn, wenn der Ärmste, in seiner sandigen Heimat über Main, in häuslichem Elend höchst glücklich gedacht werden konnte, so vermißte dagegen ein Wohlhabender, Würdiger diesseits das unschätzbare, zunächst gehoffte Behagen.
Kränkend war daher für unsern guten Jung der Empfang der tausend Gulden, die, auf jeden Fall bedungen, von großmütigen Menschen edel bezahlt wurden. Diese Barschaft sollte bei seiner Rückkehr einen Teil der Schulden auslöschen, die auf traurigen, ja unseligen Zuständen lasteten.
Und so schied er trostlos von uns, denn er sah zurückkehrend den Empfang einer sorglichen Frau, das veränderte Begegnen von wohldenkenden Schwiegereltern, die sich, als Bürgen für so manche Schulden des allzu zuversichtlichen Mannes, in der Wahl eines Lebensgefährten für ihre Tochter vergriffen zu haben glauben konnten. Hohn und Spott der ohnehin im Glücke schon Mißwollenden konnte er in diesem und jenem Hause, aus diesem und jenem Fenster schon voraussehen; eine durch seine Abwesenheit schon verkümmerte, durch diesen Unfall in ihren Wurzeln bedrohte Praxis mußte ihn äußerst ängstigen.
So entließen wir ihn, von unserer Seite jedoch nicht ganz ohne Hoffnung; denn seine tüchtige Natur, gestützt auf den Glauben an übernatürliche Hülfe, mußte seinen Freunden eine stillbescheidene Zuversicht einflößen.
 


  
 
Eckermann: Gespräche mit Goethe

  
S. 17, August bis September 1821: Eckermann an Goethe:
"[...] 'Den Gang meines Lebens und meine geistigen Entwicklung möchte ich mit dem des vortrefflichen Jung=Stilling vergleichen, dessen sich Eure Exzellenz aus glücklicher Jugendzeit mit Liber erinnern erden. – Denn wie Er bin ich in Dürftigkeit aufgewachsen, habe nicht weniger auf dem Wege zu meiner Bildung mich auf manche Weise durchschlagen müssen, und gleichihm, gelingt es auch mir endlich jetzt in meinem 28.n Jahre, eine Universität zu beziehen. [...]"
 
1824-08-10: Goethe im Gespräch mit Eckermann:
"Hier [in Offenbach] ist nun die Betrachtung ernster Dinge, wie sie das Schema in Bezug auf Stilling verspricht, wohl am Platze, und es läßt sich aus den nur mit wenigen Worten angedeuteten Intentionen auf viel Belehrendes von hoher Bedeutung schließen."
 
1831.03.15: Eckermann an Goethe:
"Die Erzählung von Jungs verunglückter Augenkur ist von so ernster Bedeutung, daß es die Menschen auf innere tiefe Betrachtungen führt, und daß, wenn in Gesellschaft erzählt, darauf sicherlich eine Pause im Gespräch entstehen würde. Ich rathe daher, das erste Buch damit zu schließen, damit auch auf solche Weise eine Art Pause eintrete." – Castle Bd. 3, S. 226: "Dieser Vorschlag wurde angenommen."

 
Man vgl. auch, was Nietzsche zu diesen Gesprächen und zu Jung-Stilling meinte.

  
Siehe z. B.:

Eduard Castle (Hrsg.): Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens 1823 – 1832 von Johann Peter Eckermann. Bd. 1. Berlin usw.: Bong (1916) = Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens 1823 – 1832 von Johann Peter Eckermann. Kommentierte Ausgabe. Hrsg., mit Einleitung, erläuternden und ergänzenden Anmerkungen sowie mit einem Register versehen von Eduard Castle. Mit 88 Abb. und zwei Handschriftproben (Bd. 1-3).
 
 

 

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