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[Johann] Heinrich Gelzer: Die deutsche poetische Literatur seit Klopstock und Lessing. - Nach ihren ethischen und religiösen Gesichtspunkten. Leipzig: Weidmann 1841.
S. 187-202: "VIII. Stilling."
 
VIII.
Stilling.
[S. 188 vakat, S. 189:]
In der Literatur des vorigen Jahrhunderts fordern zwei Namen von vielbestrittenem Werthe eine besondere Stelle, die wir keiner der schon geschilderten Richtungen unterordnend einfügen können: die Namen Heinrich Stillings und Caspar Lavaters.
Es ist klar, daß wir ihre hauptsächliche Bedeutung auf dem religiösen Gebiete zu suchen haben; aber gerade hier will die gewöhnliche Bezeichnung 'religiöser Schriftsteller' zur Würdigung dessen, was ihnen eigenthümlich und auszeichnend angehört, keineswegs ausreichen. Allerdings wirken sie durch Schriften auf einen weitverbreiteten Kreis innig zustimmender Leser; und doch liegt in diesen Schriften das Höchste und Entscheidendste ihrer Wirksamkeit noch nicht aufgeschlossen; die tiefere, schwerer veranschaulichte Quelle derselben ist vielmehr im Kern der Persönlichkeit, in der Tiefe menschlichen Gemüthes verborgen. Aus diesem Mittelpunkte geheimnisvoll individueller Bildung ist auch die weithin sich erstreckende Wirkung ihres religiösen Sinnes zu erklären. Mit der selten so hervortretenden Macht eines ganz individuell gestalteten Glaubens, mit der Gewalt persönlicher Erlebnisse und unmittelbar empfundener Wahrheit war es ihnen in einem Staunen erregenden Grade gegeben, die anregbaren Elemente ihrer Zeit, die Glaubensbedürftigen vornämlich, zum kühnsten Aufschwunge hinaufzuheben, oder in den ermuthigendsten Aussichten zu befestigen. Indem ihr eigenes persönliches Leben, seinem wesentlichem Theile nach, ganz von religiösen Ideen getragen und bewegt war, konnte ihre Einwirkung ein Born religiös gesteigerter Gedanken und Erfahrungen unter den Zeitgenossen werden; und ohne eine Kirche oder Sekte stiften zu wollen, sind sie doch für Unzählige die Vermittler einer neuen Lebensansicht, die Führer [S. 190:] durch beängstigende Zeit= und Geistesverwickelungen geworden. So gewähren ihre Schriften in der Unruhe der damaligen Literatur den Anblick eines Klosters, in welchem die mit dem Zeitgeiste Zerfallenen eine schützende Stätte suchten. ‑
 
Joh. Heinrich Jung, genannt Stilling (geboren im Grund, Kirchspiels Hilgenbach [sic; Hilchenbach], im Nassauischen; 1740‑1817), ist eine in so außergewöhnlichen Kreisen wandelnde Erscheinung, daß es bei seiner Beurtheilung eine nicht leichte Aufgabe wird, das Außerordentliche eines ganz selbständig entfaltete Charakters von den Mißgriffen seiner oft irregehenden Persönlichkeit zu unterscheiden. Er macht es, mit Einem Worte, schwer, das was in ihm nothwendig und daher göttliche Ordnung war, nicht mit dem zu vermischen, was nur seiner menschlichen Schwäche, seinen phantastischen Auswüchsen angehörte. So ist es möglich, daß er von Vielen wie ein Evangelist oder Apostel verehrt wird, während andere schon beim Aussprechen seines Namens die Stickluft der Schwärmerei zu spüren meinen, und noch andre ihn in neuster Zeit als 'gutmüthige, harmlos fromme Seele' erschöpfend zu charakterisiren glaubten. Da aber Auffassung der Art entweder völlige Unkenntnis der Thatsachen oder das Unvermögen beweisen, in eine bedeutsame Persönlichkeit erkennend einzudringen ‑ so darf uns die Beseitigung dieser Ansichten hier nicht weiter aufhalten; wie ja überhaupt, wer an's Ziel kommen will, gewöhnlich am besten thut, Mißverstand und Unverstand unberücksichtigt beiseits zu lassen. ‑ Um das Urtheil zu erleichtern, richtiger auseinander zu halten, versuchen wir, Leben und Schriften des merkwürdigen Mannes gesondert zu besprechen.
 
Beides berührt sich zwar auf's inngiste schon dadurch, daß eben eine der schönsten und wichtigsten seiner Schriften nur sein Leben zum Gegenstande hat. Was ihn bewog, den Gang seiner Erlebnisse bis in das Einzelnste öffentlich auszustellen, war weder eine gemeine Selbstgefälligkeit noch blos der Trieb des Darstellens; die Geschichte der Vorsehung in den Leitungen seines Lebens erblicken zu lassen war vielmehr seine würdigere Absicht. Und hier begegnen wir schon einem Grundgedanken seines Lebens und dem hauptsächlichen Hebel seiner Bedeutung und Wirksamkeit. Daß der auf Gott sich stützende Mensch auch [S. 191:] auf die unmittelbarste göttliche Führung bauen dürfe, daß alle Umstände unseres Lebens zu einem großen Gewebe gehören, dessen letzte Fäden in den Händen der göttlichen Weisheit selber liegen, und daß, je unbedingter unser Vertrauen, um so sichtbarer und wunderbarer auch die göttliche Durchhülfe sei ‑ dies ungefähr ist der tiefsinnige Text, den Stilling in allen seine Erfahrungen und als Thema seiner meisten Schriften durchführt. In der That ein Text, den man nur auszusprechen braucht, um zu fühlen, wie nahe sein Inhalt unserem Interesse liegt, und wie sehr er von dieser Seite die lebendigste Aufmerksamkeit erregen mußte. Denn so oft man auch gemeinhin den Satz aussprechen hört, daß die Vorsehung über unser Schicksal wache, so selten sehen wir doch, daß man sich im gewöhnlichen Leben von dieser Wahrheit leiten oder stimmen läßt; und jedenfalls bedeutet es etwas anderes, wenn ein aufstrebender Mann diesen Glauben zum einzigen Leitstern seines Lebens macht, wenn er seine ganze Zukunft an die Wahrheit dieses Glaubens setzt, wenn er den peinlichsten Verwickelungen und Bedrängnissen mit der heldenmüthigen Zuversicht entgegengeht: zur dringenden Stunde könne der rettende Finger Gottes, eben weil er auf ihn hoffe, auch nicht ausbleiben. Auf offenem Meere sehen wir ihn, von unsichtbaren Winden getrieben, und mit Erstaunen erkennt der beobachtende Zuschauer, daß es in der moralischen Welt noch eine Weltgegend geben müsse, von der nur diejenigen eine Kunde hätten, die ihr Auge standhaft dorthin richteten. Ein solches Leben erscheint darum fast als neue Offenbarung dieses Glaubens; durch diese Erfahrungen sieht man jene religiöse Ueberzeugung von neuem gerettet und bethätigt. [sic] ‑ Auf dieser Seite liegt unseres Erachtens Stillings große Bedeutung; und das anerkennendste Wort zu seiner Schätzung ist damit bereits ausgesprochen.
 
Dem widerspricht es nicht, wenn wir unbefangen eingestehen, daß in der Art, wie Stilling sein Verhältnis zur Vorsehung aussprach und geltend machte, nicht alles gleich nachahmungswerth, manches mißlich und bedauerlich, ja geradezu krankhaft gewesen sei. ‑ Das Wesentliche dessen, worin wir uns in dieser Beziehung mit Stilling nicht einverstanden wissen, ließe sich auf die drei Punkte zurückführen: nicht überall, wo er Gottes Stimme zu hören meinte, hatte er Ohr und Herz rein genug gestimmt; nicht immer kann man die Schlüsse zugeben, die er aus seinen Führungen zieht; und nicht immer ist er den Klippen des Selbstüberschätzens und des ermüdenden Reflektierens über sich selber entgangen. Hierauf muß ich ‑ selbst auf die Gefahr hin, mißdeutet zu werden ‑ aufmerksam machen, nicht nur weil die Sache schon für sich selbst wichtig genug ist, sondern weil die Fehler eines solchen Mannes oft von den Anhängern am eifrigsten nachgeahmt werden.
 
Als Stimme Gottes oder als höhere Aufforderung betrachtete nämlich Stilling zuweilen solche plötzliche innere Regungen, rasch und unvorbereitet aufsteigende Wünsche, die ihren nächsten Grund denn doch eben so gut im eigenen, menschlichen Willen hatten. Als ein bezeichnendes Beispiel der Art ist seine erste Verlobung bekannt genug. [... zur Vita; LG S. 248 ff., zit. wird S. 250.] und sind verlobt. ‑ Ueberlegen wir nun, daß dies ohne ein vorangehendes näheres gegenseitiges Kennen geschah, daß ferner Krankheit und Mangel des gerade für Stilling nothwendigen haushälterischen Talentes der armen Frau eine durch eine Reihe schwerer Leiden verkümmerte Ehe bereiteten ‑ so werden wir gegründete Zweifel an dem unmittelbaren göttlichen Rufe zu dieser Ehe schwerlich unterdrücken können. Zum Ueberflusse bestärkt uns Stilling selbst am [S. 193:] bestimmtesten in unsern Zweifeln; [... zur Vita; LG S. 397 wird zit.; Gelzer zit. nach häusl. Leben S. 195.] ‑ Freilich, als Stilling so urtheilte, war er nicht mehr der jugendliche, lebensmuthige, seinem innern Drange vertrauende Stilling; er war älter geworden, durch äußere Lebensnoth und durch Zweifel, die an seinem innersten Leben nagten, ermüdet und eingeschüchtert. Beim Studium der Philosophie hatte der ohnehin schon in ihm lauernde Zweifel an der speziellen göttlichen Leitung eines jeden Menschen eine ihn quälende Begründung erhalten, die er durch Denken nicht zu überwinden vermochte; zwanzig Jahre hindurch, gesteht er selbst, habe ihn dieser Determinismus, d. h. die Lehre von einem unabänderlichen, in der Natur der Dinge liegenden Schicksal verfolgt; er habe gebetet ohne zu überwinden, er habe geglaubt an die Freiheit des Willens aber ohne Licht und Trost; selbst beim Beten habe ihm der Zweifel in's Ohr gelispelt: 'Dein Beten hilft nicht; denn was beschlossen ist, geschieht' ‑ und selbst der Trost der Gebetserhörungen entnervte der Gedanke: die Erhörung sie der bloße Zufall. Aus der Qual dieser innern Ungewißheit wies ihm endlich die Kantische Philoso= [S. 194:] phie einen Ausweg, indem diese durch den Satz, daß die menschliche Vernunft außer den Grenzen der Sinnenwelt nichts wisse, ihm die Berechtigung gab, in der Religion unbedingt dem Glauben zu vertrauen, ohne sich um die Einreden des logischen Verstandes zu kümmern. Und der berühmte Philosoph selbst schrieb an Stilling, ihn bestärkend: 'Sie thun wohl, daß Sie Ihre einzige Beruhigung im Evangelio suchen; denn es ist die unversiegbare Quelle aller Wahrhheiten, die, wenn die Vernunft ihr ganzes Feld ausgemessen hat, nirgend anders zu finden sind.' [...] Aus dieser Zeit der Leiden und Zweifel war im Grunde seiner Seele eine Schwermuth geblieben, die viele Stellen seiner Schriften, besonders den Liedern aus späterer Zeit einen düstern Hintergrund giebt; so das Lied im "Heimweh":
‚Wie ist mir die Reise so schwer und so bitter;
Wie wenig Freude hab' ich gehabt!
Mehr Sonnenstich, mehr schwer Gewitter
Als mich des Lebens Wonne gelabt.'
Und in ähnlichem Tone klagt eine, poetisch ganz mißlungene Stelle:
‚Oft zweifelt auch das Herz an deiner Vatertreue,
Und dies geschieht allzeit, wenn ich mich sehr zerstreue;
Da wank' ich hin und her, und habe keine Spur
Von deiner Vaterhuld; da sieget die Natur.' ‑
Oder er sagt trauernd: [...]
‚Ach, wann wird' ich das Entbehren lernen,
Wann wird sich mein ew'ger Geist entfernen
Aus dem Taumelkreis der Kreatur?' ‑
Ebenso sehnsüchtig über die Gegenwart hinausblickend: [...]
‚Uns hüllt der Dämmrung Schleier
In tiefes Trauern ein;
Wann athmen wir doch freier?
Wann wirst du bei uns sein?
 
Wir harren schon so lange,
Und du erscheinst noch nicht;
Im Harren wird uns bange;
Wir sehnen uns nach Licht.'
 
[S. 195:] Es gab Momente, wo diese niederdrückende Stimmung sich so steigerte, daß er einmal (1801) gegen seine Frau äußern konnte: 'Wenn die Qual der Verdammten in der Hölle auch nicht größer ist als die meinige, so ist sie groß genug.' [= LG S. 561] ‑ Gehen wir den Quellen dieser erschütternden Mißstimmung eines sonst so kräftigen Gemüthes nach, so finden wir dieselben wohl am sichersten in einem geistigen und religiösen Mißverhältnisse; denn mit der allgemeinen Bemerkung, daß fast alle tieferen Menschen auch einen Heerd innerer Leiden in sich tragen, reichen wir hier, wo es sich um Jahre lange Schwermuth handelt, nicht aus. Was wir ein geistiges Mißverhältnis nannten, entstand aus dem Konflikt seines Denkens und Glaubens; er rang nach einem Gedanken=Systeme, das ihn mit seinen innern Forderungen und Bedürfnissen und seinem Schriftglauben nicht entzweite; er rang also nach einer christlichen Philosophie, zu deren Schöpfung er aber weder fähig nach berufen war; denn seine Stärke lag auf dem praktischen Gebiete der That und im unmittelbaren Glauben. Wie so manche vorzügliche Menschen, war er an der ihm von der Natur angewiesenen Bahn irre geworden, und strebte fruchtlos nach einer andern ihm versagten. ‑ Das zweite, vorher berührte Mißverhältnis in ihm war durch die Spannung seiner späteren religiösen Ideen bedingt; diese hatten sich allmälig vorzugsweise der Zukunft zugewendet, indem er entweder mit seinen Gedanken sich von der Erde zum Himmel erheben, oder den Himmel auf die Erde herabziehen wollte; das erste gilt von einen Geister=Visionen, das letzte von seinen Erwartugen des nahen tausendjährigen Reiches auf Erden. So hatte er sich zu ausschließlich in eine Religion der Zukunft eingelebt, deren hochgespannte Erwartung den Segen einer freien, die Gegenwart verklärenden Religiosität untergrub; dem stets in die strahlenden Bilder einer künftigen Ewigkeit Hinüberschauenden erblaßt die Gegenwart mit ihrer Pflicht und ihrem Genusse. Man vergißt es ‑ und gerade unter ernst religiös gesinnten ‑ zu oft, daß die Hoffnung einer beseligenden Vollendung uns nur zur Erhöhung, nicht zur Vernichtung des irdischen Daseins inwohnen soll. ‑
 
Wir wenden uns endlich zur Begründung jener zweiten Be= [S. 196:] hauptung, daß Stilling aus der Ueberzeugung einer ihm zu Theil gewordenen göttlichen Führung zuweilen Folgerungen macht, denen man sich mit Recht entgegenstellt. Es ist zu erklären und zu entschuldigen, aber nicht zu billigen, wenn Stilling im Hinblicke auf die merkwürdigen Verschlingungen und Lösungen seines bisherigen Lebens die fixe Idee in sich aufkommen läßt: er müsse nothwendig noch zu irgend einer großen Aufgabe, einem nicht geahnten Ziele von Gott aufgespart sein, als ab die göttliche Aushülfe nur die Ausführung künftiger Großthaten verheißen sei, und nicht eben so gut dem verborgensten, an Gott sich haltenden Still=Leben. ‑ Sodann ist es doch weit gegangen, wenn er zuweilen bei den empfindlichen Verlusten, für unser Gefühl zu schnell, einzusehen meint, warum dies gerade jetzt habe kommen müssen; einem feineren Sinne muß es widerstreben, wenn er von seiner edeln zweiten Frau schreiben kann: er habe nach ihrem Tode deutlich eingesehen, daß sie in seinen Lebensgang ferner nicht mehr gepaßt hätte! ‑ In diesem Sinne wiederholt er mit Nachdruck die Worte eines Freundes: 'die Vorsehung müsse etwas Sonderbares mit ihm vorhaben; denn alle seine großen und kleinen Schicksale zielten auf einen großen Zweck, der noch in der dunkeln Zukunft verborgen liege.' ‑
 
Damit hing aber jene andre ebenfalls schon genannte Gefahr der Selbstüberschätzung genau zusammen. Ehmals hatte er in Zeiten der Noth sich fraglos in die Arme Gottes geworfen, und es war ihm geholfen worden; jetzt reflectirte er über die Aussichten, zu denen ihn jene Aushülfe berechtigte; und fing an in seiner Person den Mittelpunkt eines wichtigen Plans der Vorsehung zu ahnen. Von dieser Vorstellung sind die letzten Bände seiner Lebensgeschichte vielfach angesteckt. Man erschrickt, wenn man ihn immer und immer von den 'Stillingsfreuden' [sic; Stillingsfreunden] (dies sein Ausdruck), die er dort und hier gefunden, so sprechen hört wie von einer auserwählten Gemeinde. Oder wenn er bei Erwähnung seines Buches 'vom Heimweh' es noch für nöthig hält zu warnen: 'ja nicht so lieblos zu urtheilen, als ob er sich dadurch einer göttlichen Eingebung, oder nur etwas ähnliches, anmaßen wolle.' Eben dahin gehören verschiedene umständliche Anführungen, aus denen wir, genau besehen, am Ende doch auf eine ihm [S. 197:] geschenkte besondere Erleuchtung schließen sollen. ‑ Und zum mindesten hörte man es lieber nicht aus seinem Munde, wie er und seine Frau zuweilen auf der Reise 'wie Engel Gottes seien aufgenommen und behandelt worden.' ‑ Die Aufzählung noch vieler andrer reichlich vorhandener Aeußerungen der Art möge mir erlassen werden; zumal hierin dem Scheine der Splitterrichterei nicht leicht zu entgehen ist. Die Aufzählung der Mißgriffe eines edeln Verstorbenen ist wahrlich nicht unser Augenmerk, wohl aber die Wahrheit und reine Erfassung des großen von diesem Verstorbenen befolgten Lebensgrundsatzes. Gleichgültig ist es nicht, ob die höhere Leitung unsrer Geschicke uns zur vertrauten Gewißheit werde, und die Nacht unseres Lebens sanft erleuchte, ob sie sich in ein von Zweifeln entseeltes Schattenbild oder in ein Irrlicht der Schwärmerei verwandle. Darum schien es der Mühe werth, auf die Seiten hinzuweisen, in welchen Stilling uns irre führen könnte. Für jene noch ungelöste Frage über das Verhältnis menschlicher Freiheit zur göttlichen Führung und Einwirkung dürfen wir bei Stilling keinen Aufschluß suchen; ist er ja selbst Jahre lang an diesem Gedanken geistig erkrankt. Auch werden wir ihn nicht zum Lehrer wählen, wenn es gilt, jene leise Stimme zu erkennen, die uns die Richtung unseres Weges anzeigt, und von uns als höherer Wink vernommen wird. Aber darin wird Stilling als hohes Beispiel allen Gottgeleiteten Menschen vorleuchten, daß er mit einer heldenmüthigen Zuversicht, die selbst an's Wunderbare grenzt, jede Entwickelung seiner Zukunft, jede Lösung seiner Schicksalsknoten in Gottes Hände legte. Es ist dies ein Heroismus des Gottvetrauens, dessen belebende Verkündigung schon hingereicht hätte, um Stillings Mission unvergeßlich zu machen. ‑
 
Bisher betrachteten wir Stillings Leben; es bleiben uns noch seine Schriften. Hier muß wieder diejenige, welche sein Leben beschreibt, an die Spitze gestellt werden.; und zwar gebührt der Preis unbedingt den ersten Bändchen, die uns seine Jugendzeit bis zur Reife des Mannesalters vorführen; ein Buch, das vielleicht den schönsten in der neueren europäischen Literatur beizuzählen ist; denn vor Goldsmiths 'Vikar von Wakefield' hat es die geschichtliche Wahrheit voraus. Wer wird je, wenn er sie [S. 198:] einmal erkannt hat, jene die regste Theilnahme ansprechenden Gestalten wieder vergessen, wie die herrliche des Großvaters Eberhard, der Großmutter Margaretha oder des sinnig zarten Dortchens, der Mutter Stillings? Alle Wonne entschwundener Kinderjahre, aller Frühlingsduft eines dichterischen Naturgenusses und die Seligkeit einer von späterer Klugheit unangefochtenen Kindesfrömmigkeit schaut uns, wie ein beglückender Traum aus diesem Buche an. Um seinen vollen Reiz zu empfinden, muß man ‑ um ein Wort Goethes hier anzuwenden ‑ sein Brot schon mit Thränen gegessen haben; man darf Erfahrungen, wie sie in Stillings Jugend vorkommen, nicht zu fremd geblieben sein. Uebrigens ist es bekannt, daß Goethe jenes erste Bändchen herausgegeben und durch das eingesandte Honorar den bedrängten Stilling aus der ängstlichsten ökonomischen Noth rettete; Goethes verbessernde Hand ist in der Darstellung unverkennbar; denn diese Meisterschaft und Reinheit des Styls hat Stilling nie sich zu eigen gemacht. Als Probe möge die Ahnung des Vaters Eberhard vor seinem Tode hier stehen:
 
[... LG S. 70 f. ... S. 199: ...] ‑
 
Mit dieser Schilderung könnte man etwa noch Stillings Besuch bei seiner todtkranken Großmutter vergleichen: wie da die erblindete Frau mit ihrer Hand tastend über das Angesicht ihres Enkels fährt [... LG S. 234] vergißt;' u. s. w.
In dieser Biographie erscheint da, wo das Universitätsleben in Straßburg beschrieben wird, Goethe, Stillings Universitätsfreund, in einem Lichte, das besonders die beschämen muß, die sich gewöhnt haben, von seiner Herzlosigkeit zu sprechen. [... LG S. 263 und S. 285 ... S. 200: ...]
 
Daß die andern Bände der Selbstbiographie Stillings in Inhalt und Darstellung von den ersten durch eine weite Kluft getrennt sind, ist bereits angeführt worden. ‑ Dagegen finden sich in seinen Romanen: Geschichte des Herrn von Morgenthau, Theodore von der Linden, Florentin von Fahlendorn ‑ Partien, die an die Jugendgeschichte erinnern. Auch in diesen Romanen will er vorzugsweise das Walten der Vorsehung in den menschlichen Schicksalen, in der Lenkung des scheinbar Zufälligen vergegenwärtigen. Nebenbei spinnt er darin auch philanthropische Lieblingspläne eines neuen, christlich=idyllischen Staates aus, wie wir dieselbe Neigung bei Wieland und Stolberg als ein Mitmerkmal angetroffen haben; besonders trägt dies Gepräge die Geschichte des Herrn von Morgenthau. 'Durch diese politische Romane ‑ sagt Jung selber ‑ bildete sich in meiner Seele ein Trieb, den niemand entdeckte: Lust zu regieren, überschwenglicher Hunger, Menschen zu beglücken.' ‑
Eine veränderte Zeit erregte auch einen veränderten Trieb; da er in der 'Aufklärung' in Deutschland die Verdrängung alles biblischen Christenthums und am Ende die Befeindung alles Christlichen sah, und in der französischen Revolution die Zertrümmerung aller göttlichen und menschlichen Ordnung, so machte er es zu seiner Lebensaufgabe, diese Geister zu bekämpfen, und die zerstreute Gemeinde der Treugebliebenen zu befestigen. Seine Zeitschrift: 'der graue Mann;' die Erklärung der Offenbarung Johannes ('Siegsgeschichte der christlichen Religion') wurzeln alle in dieser ihn jetzt völlig beherrschenden Tendenz. Der sich durch Alles hindurchziehende Gedanke ist die Ankündigung der Nähe des Antichrists und der Wiederkunft Christi. Von den gewaltigen Gegensätzen seiner Zeit erschüttert, glaubte er, nur ein unmittelbares, wundervolles Dazwischentreten Gottes könne die nöthige Entscheidung herbeiführen; und so flüchtete er sich, statt wie Stolberg in den Katholizismus, in Träume und Berechnungen der Zukunft, in Geister=Erscheinungen, [S. 201:] in phantastisches Versenken in die von ihm grillenhaft ausgemalte unsichtbare Welt. Diesen Abweg haben wir bereits abgewiesen, und fügen nur noch hinzu, daß die Scenen aus dem Geisterreiche wohl sein verfehltestes Buch in dieser Richtung gewesen; wogegen man in andern, wie im Heimweh, auch höchst Vortreffliches, tief Gedachtes und Empfundenes freudig genießt. Den Schlüssel des Buchs enthält schon der Titel; es sind die Hoffnungen eines Heimwehkranken, der sich in der damaligen Welt fremd fühlt und mit Sehnsucht einer neuen Erde, der wunderbaren sich im Stillen schon anbahnenden Realisirung des göttlichen Reiches entgegensieht. ‑
 
Einen von diesen schwärmerisch=ekstatische Richtung ganz abweichenden Charakter hat sein Buch 'Theobald oder die Schwärmer.' Mit bewundernswerther Menschenkenntnis und Seelen=Erfahrung sind hier die wichtigsten Klippen religiöser Begeisterung und Ueberspannung, die meisten Abwege der Sekten und Separation mit einer Nüchternheit und Klarheit aufgefaßt, die niemand bei ihm sucht, der ihn nur oberflächlich kennt. Für die praktische Anwendung, und besonders für unsre in allen Dingen zum Extrem hinneigende Zeit ist dies ohne Zweifel seine wichtigste, gesundeste Schrift, ein reines Denkmal seines zur Wahrheit vorstrebenden Geistes. —
 
Soviel über Stillings Leben und Schriften; noch ist beider Wirkung nicht zu Ende, was die vor wenigen Jahren erschienene Gesammtausgabe seiner Werke und noch mehr der zahlreiche Kreis seiner Verehrer augenscheinlich darlegt. Und gewiß, ein Leben wie das seinige, durch so auffallende Einflüsse, durch solche Kontraste gebildet, daß es uns wie ein Roman vorkommt — ein solches Leben konnte seiner Zeit, es darf der Welt nicht verloren gehen. Von den unscheinbarsten, verborgensten Anfängen steigt er zu einem weit über sein Vaterland hinaus sich erstreckenden Wirkungskreise; einst ein armer Bauernknabe, im Alter als Bekämpfer der mächtigsten Zeitrichtungen von Vielen als Prophet verehrt, gemahnt er uns fast an jenen Hirtenknaben, dessen Schleuder den Riesen erlegen sollte. [...] Der sich vom Schneiderjungen zum Dorfschulmeister, vom Hauslehrer zum Arzte, vom Professor zum weithin wirkenden religiösen Schriftsteller durchge= [S. 202:] rungen hatte, durfte ja wohl sein Leben als 'Schauspiel der Führungen Gottes' betrachten; es hat manchem, der unter dem Zwang einer gepreßten Jugend in's Freie aufgestrebt, wie ein tröstender Stern vorgeleuchtet. — Und wie Vieles ihn auch späterhin mag verwirrt haben, die siegreiche Hoffnung, an der sein Leben aufgerankt, ließ ihn nie ganz; se gab ihm das Wort, das in einem seiner schönsten Lieder steht: Sein leidenvolles Leben sei doch nu das Geburtsweh eines ewigen Glückes gewesen. —
 
Lavater*).
Mit Stilling wurde Lavater (1741 bis 1801) zusammengenannt, weil beide in Gesinnung, Richtung und Wirkung viel Gemeinschaftliches hatten. — Zwar mußte Lavater sich nicht aus so untergeordneten Verhältnissen wie Jung aufarbeiten; [...]. [... ] — In der Behandlung der Welt und der Menschen, besonders aus den höheren Ständen, war er seinem Freunde Stilling wohl um vieles überlegen; [... S. 205: ...]. —
Nur einen Mann hat die erste Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts hervorgebracht, dem sowohl innere Richtung als Um= [S. 206:] fang des Einflusses auf die Zeit eine Stelle neben Stilling und Lavater anweisen: es ist Zinzendorf*). [...]
Alle drei zusammen stellten das Gebiet religiöser Ueberzeugungen dar, welches im Innern und in der Lebenserfahrung neu vermittel von einer jeden Zeit eigenthümlich kann angeeignet werden. Man könnte — wenn der Ausdruck nicht zu leicht mißbruacht würde — diese Wirksamkeit als eine prophetische bezeichnen; prophetisch in dem alten weiteren Sinne des Wortes, wo es nicht als Weissagung gefaßt wird, sondern als sittlich=religiöse, geistesmächtige, nur durch innern Ruf gebotene Einwirkung auf die Menschheit. In diesem Sinne stellen Priesterthum und Prophetenthum die beiden nothwendigen sich ergänzenden Seiten der Religion dar; [...]. [...] — So verstanden, müssen wir die höhere geschichtliche Würdigung von Zinzendorf, Stilling und Lavater eben nur auf diesem Gebiet suchen. Sie alle traten auf in einem Jahrhundert, wo das religiös Ueberlieferte entweder ohne geistige Bewegung fortbestand, oder vom subjektiven Verstande der Zeit bereits abgewiesen war; hier galt es für das einzelne Subjekt, für das schwankende Bewußtsein des Individuums das wiederherzustellen, was in der Ge= [S. 207:] sammtheit seine Macht nicht mehr ausübte; die starke individuelle Färbung, das Subjektive haftet darum der Religiosität jener drei Männer gleichermaßen an. —
Merkwürdigerweise zeigt sich auch in einigen von ihnen ein Gefühl ihrer gemeinsamen Grundlage und Bedeutung: Stilling z. B. trat in seiner späteren Zeit in ein sehr enges Verhältnis zur Brüdergemeinde [sic, Brüdergemeine], in welcher er einen Anfang dessen zu erblicken glaubte, was das Christenthum in der Zukunft sein und wirken werde; eben so war Lavater mit Stilling, wie mit manchen Gliedern der Gemeinde, eng verbunden. Von allen dreien gilt es in gleichem Grade, daß in ihrem Herzen der scharfe Zwiespalt der Konfessionen ausgelöscht war, nicht nur jener unstatthafte, überwundene zwischen Lutheranern und Reformirten, sondern auch der härtere zwischen Katholiken und Protestanten; bis zum Aeußersten hatte sich der Trennungstrieb gebracht; nun that Vereinigendes noth und Lebengebendes. — [...] In dieser Milderung, ja Ueberschreitung des Konfessions=Gegensatzes ist auch die Verheißung eines dereinstigen neuen, über der Trennung stehenden Bandes gegeben; und Keime zu einem solchen Neuen, wie es jetzt noch formlos in der Zeit arbeitet, lassen sich bei Zinzendorf, Stilling und Lavater nachweisen. [...]
 
In späteren Werken griff Gelzer diese Ausführungen wieder auf:
 
 
Gelzer, [Johann] Heinrich: Die neuere Deutsche National=Literatur nach ihren ethischen und religiösen Gesichtspunkten. Zur inneren Geschichte des deutschen Protestantismus. Erster Theil. Zweite umgearbeitete und vermehrte Auflage. Leipzig: Weidmann 1847.
 
Gelzer, [Johann] Heinrich: Die neuere Deutsche National=Literatur nach ihren ethischen und religiösen Gesichtspunkten. Zur inneren Geschichte des deutschen Protestantismus. Zweiter Theil. Zweite umgearbeitete und vermehrte Auflage. Leipzig: Weidmann 1849.
 
Im Inhaltsverzeichnis liest man:
 
III. Drittes Buch.
Die Fortentwicklung des religiösen Princips in der deutschen Literatur ....... 1
Erster Abschnitt ............. 4
Die Durchdringung der geschichtlichen (kirchlichen) mit der beschaulichen (mystischen) Auffassung des Christenthums. [...]
3. Stilling ........... 51
4. Lavater ............ 69
 

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