Karl August Varnhagen von Ense und Jung-Stilling
Schattenrisse (Porträts)
Siehe auch umfangreich zu Rahel Antonie Friederike (geb. Levin; 1771-1833, vgl. hier) und Karl August Ludwig Philipp Varnhagen von Ense (1785-1858) die Seite der Varnhagen-Gesellschaft unter diesem URL, die mich zu dieser Seite veranlasste.
Da sich dort alle wesentlichen Informationen zu den beiden Personen finden lassen, beschränke ich mich hier auf Karl August Varnhagens Beziehungen zu Jung-Stilling und Max von Schenkendorf. Zu den Beziehungen zu Rahel Varnhagen, die der spätere russische General-Lieutenant Karl von Nostitz in seinen Memoiren so liebenswürdig charakterisiert, ist nichts bekannt.
Als kaiserlich-russischer Hauptmann war Varnhagen im Juni und Juli 1814 zugleich mit dem russischen Hof in Baden-Baden. Der Hof glänzte dort besonders durch die Kaiserin Elisabeth, geborene Luise Maria Auguste von Baden.
Varnhagen kam mit den Truppen der Befreiungskriege hierher, nachdem er zuvor in Prag "mit Hauptmann Wilhelm Friedrich [von] Meyern [1762-1829], dem Verfasser des Romans 'Dyna-forre' [recte 'Dya-Na-Sore', 3 Bde, Leipzig 1787-1789; auch in BDL vorh.] in einem Hause gegenüber dem Jesuitenkolleg zusammen" gewohnt hatte.
Aber Baden-Baden sah Varnhagen auch später wieder, nachdem er 1816 in preußischen Diensten angestellt und Ministerresident in Karlsruhe geworden war. Im August 1816 logierte er als
Hr. Varnhagen von Ense, königl. preußis. Geschäfts= / träger am GH. Bad. Hofe, nebst Dienerschaft, / aus Karlsruhe." "Bey Hrn. Rathsverwandten Horber."
Varnhagen unterschreibt am 20. Juni 1817 einen Brief an Jung-Stillings Schwiegersohn Schwarz – evtl. ein Kondolenzschreiben – mit "Königl. Preuß. Legationsrath und Geschäftsträger am Großherzogl. Badenschen Hofe."
Im Juni 1817 wohnte er wie 1814 "nebst Bedienung" "Bey Xaver Maier." in Baden-Baden. Im Juli desselben Jahres war zunächst seine Gattin "Madame Friederike Varnhagen von Ense, nebst ihrer Nichte." "Bey Herrn Rathsverwandten Göhrig." zur Kur, und eine Woche später zieht der Gatte "nebst Bedienung" zu ihr in dasselbe Logis.
Baden-Baden war auch der Kurort für Jung-Stilling, aber noch ist nicht nachgewiesen, dass beide einander dort trafen. Aber schon früh muss Varnhagen von Jung-Stillings Werk Kenntnis gehabt haben: In der Bibliothek Varnhagen (Nr. 377-378) befand sich ebenfalls je ein Exemplar der Ausgabe der "Lebensgeschichte" Jung-Stillings aus den Jahren 1777 bis 1804. Am 5. September 1857 stellt Varnhagen in seinen Tagebüchern die Lebensgeschichte der Charlotte Bronté "in die Reihe derer, die wie Stilling's Jugendgeschichte, Rousseau's Bekenntnisse, unbeachtete Gebiete des Menschenwesens aufschließen und erhellen."
Als dann 1808 Jung-Stillings "Theorie der Geister=Kunde" erschienen war, berichtet Varnhagen von Ense unter dem 9. Dezember 1808 "von früheren Gespenstervisionen Kerners und von einer in gemeinsamer Lektüre von Jung-Stillings Theorie der Geisterkunde verbrachten Nacht, die bei beiden Gespensterschauer und schwere Verstörungen auslöst."
Gero von Wilpert: Die deutsche Gespenstergeschichte. Motiv - Form - Entwicklung. Stuttgart: Kröner (1994), S. 259.
Noch am 17. Februar 1843 hat Varnhagen einen "Tumult" wegen dieser "Theorie". Er schreibt in seinen Tagebüchern:
"Nachmittags Botschaft von Fräulein von Kalb; die Prinzessin Wilhelm [= Marianne von Preußen] wünscht von mir Jung=Stilling's Geschichte der Weißen Frau oder eine sonstige Geistergeschichte, die sie heute Abend der Königin vorlesen will! Ich suche mühsam Jung's 'Theorie der Geisterkunde' hervor, schneide das Buch auf, kann die Stelle nicht finden, bezeichne die über Cazotte, suche noch ein andres Buch, schreibe ein Wort; mittendrin kommt der Prinz von Bentheim, wünscht Rath und Hülfe wegen des Ariodante […] und der Prinz mit seiner Beute fröhlich ab. Dies hier aufgeschrieben, wegen des lächerlichen Tumults, der mich in diesen Anliegen heimsucht!"
Jacques Cazotte geb. Dijon 17. Oktober 1719, gest. (guillotiniert) Paris 25. September 1792; 1747-61 Marineangestellter in Martinique, dann in Paris, Anhänger der Monarchie.
Am 15. März 1809 schreibt Jung-Stilling im "Schweizer-Boten" S. 24 f.:
"Ich erzähle in meiner Geisterkunde das merkwürdige Tischgespräch in Paris, in welchem der selige Herr Cazotte den anwesenden Gästen jedem seine künftige Todesart auf das betimmteste, und zwar beynahe sechs Jahr vorher ankündigte. Ich bitte diese Erzählung noch einmal aufmerksam zu lesen; sie fängt §. 149. an, und hört nebst meinen Bemerkungen darüber mit dem §. 151. auf. Außer den Beweisen der Wahrheit dieser Geschichte, die ich daselbst angeführt habe, füge ich noch folgendes hinzu."
In den Jahren 1835 bis 1838 erschienen Jung-Stillings "Sämmtliche Schriften", von denen sich Varnhagen einige Bände angeschafft hat.
Aber schon zuvor muß er Jung-Stillings Lebensgeschichte gekannt haben, denn 1835 nennt er sie in einer Rezension der Memoiren des Ernst Ludwig Heim (1747-1834) und meint, daß solche Lebensgeschichten zeigen, was die Welt zusammenhält, im Gegensatz zu den französischen Werken der Art, die zeigen, wie sie zerfällt und zerbricht.
Varnhagen von Ense notiert dazu am 12. Dezember 1837 in seinem Tagebuch:
"Eine neue Lieferung von Jung=Stilling's Schriften nahm ich zur Hand. In Schilderungen landschaftlicher Natur und des Bauernlebens hat er eigenthümlichen Reiz, und seine Religiosität, wie über oft raisonirt und diskutirt, hat eine wohlthuende Kraft, weil man fühlt, daß [S. 68:] es ihm so schön ernst damit ist. Seine und Pestalozzi's Einblicke in das untere, arme Leben sind einzig. Doch bleibt in dieser Sphäre etwas Unbefriedigendes, und auf die Dauer hält man es nicht aus. Das Beste, was diese Autoren in ihr leisten, findet sich ohnehin bei Goethe wieder, nur in gereinigter und in höhere Verbindung gesetzt".
Am 28. Dezember schreibt er dann weiter:
"Ich las in den letzten Abenden die biblischen Erzählungen von Jung=Stilling; sie sind bei guter Meinung ganz erbärmlich, geben mir aber viel zu denken. Ueber Religion, ihre Kraft, ihre Gestalten, ist mir in diesen Tagen [S. 70:] mancherlei klar geworden. Welche Täuschungen schleichen sich auch bei den Besten ein, - wohin gewiß Jung=Stilling zu zählen ist, - sobald die äußere Form des Uebergewicht gegen das innere Wesen nimmt; wie kleinlich, ja geradezu kindisch und albern sind seine Vorstellungen von der Gottheit in vielen Fällen! Ein edles Herz, doch oft in gemeine Beziehungen versenkt, und ein durchaus schlechter Kopf!"
In Band 10 der Tagebücher (1868) liest man S. 217 unter dem 9. August 1853 von einem Besuch Varnhagens in Homburg, wo er den Sohn des Hofrats Jung, der mit Sinclair und Hölderlin bekannt war, besucht. Das Register weist ihn Jung-Stilling zu. Allerdings: Dies ist nicht "unser" Jung-Stilling, sondern der Sohn des Homburger Franz Wilhelm Jung, zu dem sich alle Informationen hier finden lassen.
In Leipzig wurde am 3. Oktober 1859 die Varnhagen von Ensesche Bibliothek versteigert. Dazu erschien der folgende Katalog: "Verzeichniß der hinterlassenen Bibliotheken des Herrn K. A. Varnhagen von Ense sowie des Herrn Dr. Ernst Heinr. Friedr. Meyer, welche nebst mehreren anderen Büchersammlungen am 3. October 1859 im T. O. Weigel'schen Auctions-Lokale zu Leipzig durch den verpflichteten Proclamator Herrn Heinr. Engel gegen baare Zahlung versteigert werden sollen, Leipzig 1859". Auf S. 17 findet sich als: "Nr. 522 Jung, (Stilling) sämmtliche Schriften 13 Bde. (60 Lfgn.) Nebst Ergänzungsbd. Stuttgart 835-38. br. (15 Thlr.)".
Auch kannte Varnhagen Jung-Stillings Freund Johann Ludwig Ewald, von dem der eifrige Sammler Varnhagen schreibt:
"Er war Mitgänger von Lavater, von Goethe, von Jung-Stilling und vielen anderen. Starke Sinnlichkeit, die sich zunächst als üppige Empfindsamkeit äußerte, dann aber auch anders. Briefe Goethe's an ihn muß sein Schwiegersohn Major von Kalenberg in Karlsruhe haben."
Umfassend äußert sich Varnhagen dann 1842 in seinen "Denkwürdigkeiten" zu Jung-Stilling. Hier heißt es S. 157-159:
"Unmittelbar nach dieser kurzen Erscheinung der Prinzessin von Wallis hatten wir in Karlsruhe einen Todesfall zu betrauern, der in ganz andere Richtung die Gemüther aufregte. Jung=Stilling starb am 2. April, nach längerer Krankheit, in hohem Alter. Ich hatte ihn während der letzten Zeit aus den Augen verloren, und sein Tod überraschte mich; die wenigen ausführlichen Gespräche, die ich mit ihm gehabt, traten mir nun lebhaft vor die Seele, und ich warf mir vor, nicht häufiger mit ihm verkehrt zu haben. Er hatte eine sanfte Wärme, die dem Herzen wohlthat, und nahm abweichende Meinungen und selbst Widerspruch gegen seinen Glauben mit liebevoller Nachsicht hin; nur Einmal hatte ich ihn erzürnt, und er fuhr heftig auf, allein es war nicht meine Schuld, er hatte meine Worte missverstanden, wie ihm seine fromme, in unaufhörlichen Leiden und Zuckungen doch stets geistesrege, und ihn weit übersehende Frau sogleich begreiflich machte. An Goethe'n hing sein Herz noch immer, und er zweifelte nicht an dem Heil des Freundes, dessen Wege er doch nicht zu verstehen bekannte. Von der Theorie der Geisterkunde wollte er nicht gern sprechen, er sah sie als eine Verirrung an. Gern und [S. 158: ] sehr anmutig erzählte er seine Lebensbegebnisse [sic], wobei mitunter sehr merkwürdige Züge vorkamen. So hatte der Kaiser Alexander ihn einst, nach längern religiösen Unterhaltungen auf's äußerste bedrängt, er solle sagen, welche der christlichen Partheien er am meisten übereinstimmend glaube mit der ächten, reichen Christuslehre? So hart war die Frage nicht gestellt, wie die ähnliche, welche Nathan dem Saladin beantworten sollte, auch nahm Jung zu keinem Mährchen die Zuflucht, sondern bekannte frei heraus, er habe keine Antwort auf diese Frage, alle christlichen Bekenntnisse und Sekten hätten ihr Gutes, und keine der christlichen Formen schlösse den Weg zur Seligkeit aus, es käme alles auf den Menschen selbst an, auf seine Gesinnungen und seinen Wandel. Der Kaiser war hiermit nicht zufrieden, er meinte, es müsse doch ein Mehr und Minder geben, und einem Forscher wie Jung sei doch gewiß nicht entgangen, wohin die Wage sich neigen wolle. Auf erneutes Dringen des Kaisers, und nach einigem Besinnen, ob er ihm irgendwie nachgeben könne, hatte aber Jung doch nur wieder seinen Spruch, sein Gewissen erlaube ihm nicht, einen Vorzug einzuräumen. Endlich sagte der Kaiser, ihm selber sei die Sache beinah entschieden, nur wünschte er seine Meinung durch Andre bestätigt zu sehen, ihn dünke, die Herrnhuter entsprächen jenem Vorbild am meisten. 'O ja, versetzte Jung, die Herrnhuter sind vortrefflich, und mir gewiß lieb; aber die Form thut es auch hier nicht, und wenn der Mensch nur gut ist, so kann er in jeder gedeihen.' Der Kaiser konnte nichts anderes aus ihm herausbringen. [S. 159:]
Ein anderer Zug von Jung=Stilling ist merkwürdig in Betreff der Freiheit, zu welcher sich in seiner letzten Zeit ein Geist erhob, der in seinem frommen Wallen fast immer die Fesseln des Wahnes und Aberglaubens schwer mitgetragen hatte. Der Tod stand lange vor ihm, zögerte aber stets, und der Greis, der zu sterben wünschte, konnte sich der Klage nicht erwehren, daß sein Leidenszustand sehr groß sei. Eine seiner Enkelinnen stand an seinem Bette, und glaubte ihn trösten zu müssen: 'Bedenken Sie aber, sagte sie, welche Herrlichkeit Sie bald sehen werden,' und nun malte sie ihm den Himmel mit den genauesten Zügen und Bildern, die in solchem Augenblicke doch allzu kindisch erscheinen mussten. Das fühlte Jung, fand die Tröstung unangemessen, und wies sie mit der verdrießlichen Äußerung zurück: 'Das kann man so recht doch nicht wissen.' Frau von Reden, die beinahe täglich den Sterbenden besuchte, hat mir an dem Tag selbst, wo sie sie gehört, diese merkwürdigen Worte wiedererzählt. Ich will keineswegs sagen, daß sie mehr bedeuten, als bei frömmster Zuversicht, die Jung gewiß hatte, ihr schlichter Sinn ausdrückt: 'Das kann man so recht doch nicht wissen.' –
Mehr als das Ableben des stillen Greises gab der Tod eines Kindes zu reden, der in der ersten Hälfte des Mai sich unerwartet ereignete."
Schattenrisse
In der damaligen Zeit, da man noch nicht die Fotografie kannte, behalf man sich durch Schattenrisse und ihre Herstellung und Vervielfältigung mit dem Storchenschnabel. In Straßburg konnten mehrere gleichartige Scherenschnitte Jung-Stillings aufgefunden werden. Vielleicht stammt einer davon – oder gibt es noch einen nicht aufgefunden –, der von Varnhagen von Ense angefertigt worden ist. Friedrich Laun (d. i. Friedrich August Schulze, 1770-1849) schreibt im zweiten Band seiner "Memoiren" S. 181:
"mit der größten Virtuosität und Schnelligkeit, schnitt er vorzüglich die Gesichter und Gestalten bekannter Personen in Papier, großentheils aus dem Gedächtnisse, aus."
"Das Fest des Fürsten von Schwarzenberg Paris, 1810"
Als ein Beispiel klassischer Prosa ist dieser Aufsatz Varnhagens bekannt und geschätzt. In seiner Zeitschrift "Der graue Mann" schreibt Jung-Stilling im 23. Stück (1810) S. 95 zwar auch über dieses Unglück, aber längst nicht in dieser Brillianz Varnhagens. Jung-Stilling schreibt zwar von einem Augenzeugen, der ihm sagte, "die Flamme hätte sich durch den ganzen Saal hingezogen, wie eine grose feurige Schlange", aber Varnhagen kommt hier schon zeitlich nicht als Informant in Betracht.
Max von Schenkendorf und Varnhagen von Ense
Wenig ist über das Verhältnis zwischen diesen beiden Männern bekannt. Allein schon aufgrund ihres Berufs müssen sie aber Kontakt zueinander gehabt haben.
Gerard Kozielek nennt Varnhagen "klatschsüchtig", und hat damit auch einen Teil der Persönlichkeit erkannt. Wer viel weiß hat auch großen Einfluss. Vielleicht liegt hier ein Grund für die Abneigung Max von Schenkendorfs gegen Varnhagen. Schenkendorf kämpfte um sein Amt am Rhein, das er nicht (richtig) erreichte. Varnhagen gelang es.
So schreibt Schenkendorf aus Karlsruhe am 20. Mai 1816 an Emma von Jasmund:
"Vor allem aber schreiben Sie mir von Ihrem lieben Leben, Ihrem Thun und Lassen, Ihren Neigungen und Aussichten, von den Nachrichten die Sie von Ihrem allge- mein belobten u. bedauerten Schwiegervater und aus Göttingen haben. Sind wieder Kunstwerke von Adelens lieber Hand angekommen? Sie wissen das die mir gehören, und Sie thäten besser mich sogleich damit zu erfreuen, als sie vorher durch den ekel- haften Varnhagen entweihen zu lassen. Alles will ich wissen und haben, denn ich bin unersättlich."
Und noch kurz vor seinem Tod am 11. Dezember 1817 heißt es in einem Brief Schenkendorfs aus Koblenz an Henriette von Reden:
Das hab' ich früher wohl gekonnt, und muß mich nun immer darnach sehnen, und komme vieleicht noch dahin den Varnhagen zu beneiden, da es doch wohl ein Leichtes gewesen wäre in seiner Stelle zu seyn. Durch meine Badereise habe ich das MilitairDepartment verloren,
Allerdings: Karl August Varnhagen von Ense bemühte sich um Max von Schenkendorf lange nach dessen Tod. Varnhagen trägt am 3. Dezember 1857 in seinem Tagebuch ein:
Besuch bei Humboldt. Herr von Olfers ging eben weg, und sagte uns, daß Rauch in Dresden gestorben sei. Dann geht der General Graf von der Groeben fort, der sich sehr freundlich bezeigt, und gern hört, daß ich ihm einen Mann zuweisen will, der die Gedichte von Schenkendorf neu herausgeben wird. [...]