Der folgende Brief ist bereits in den Jahren
1822
1831
1850
1857
veröffentlicht worden.
Die Briefausgabe nennt S. 53 ein Antiquarisches Angebot aus Wien vom 6. Mai 1989, das eine zeitgenössische Abschrift feilhielt.
In seiner Inauguraldissertation gab der Editor noch nähere Hinweise, wenn er S. 147, noch Anm. 403, schreibt:
Antiquar.-Angebot Löcker & Wögenstein, Wien, an GLA Karlsruhe; handschr. zeitgenöss Abschrift auf 7 1/3 Seiten, „unveröff.; Kopie und Transkription vorh.“
Also war auch dieses Dokument in seinem Druck dem Herausgeber wie bei vielen anderen Quellenstücken entgangen.
Da der Brief jedoch von sicherlich großem Interesse ist, sei er wie viele andere Quellen hier wiedergeben nach dem bisher ersten festgestelltem Druck aus dem Jahr 1822.
„Aus einem Briefe von Jung=Stilling an einen Freund. *)
*) Für die Authentizität dieses, nicht blos für die zahlreichen Verehrer des merkwürdigen Mannes interessanten Schreibens, welches einen nicht unwichtigen Beitrag zur Kenntniß der hohen religiösen Gesinnungen und Ansichten des Kaisers Alexander darbietet, kann Eins[ender]. bürgen. D. Eins[ender].
Carlsruhe, den 27. April 1815.
Zuerst die Wunder Gottes in meiner Führung. Ich bitte aber, über folgende Geschichte vor der Hand nur den vertrautesten Freunden mitzutheilen, bis ich einmal den 6ten Theil meiner Lebensgeschichte schreiben werde; dann soll es alle Welt wissen, was der Herr an mir gethan hat.
Seit dem Tode des Großherzogs 1811 hörte meine Wohnung im Schloß und auch der Genuß der fürstlichen Tafel auf. Ich erhielt zwar meine Besoldung, aber Ersatz für Wohnung und Tafel bekam ich nicht. Es war mir nun nicht mehr möglich, damit durchzukommen; allein meine vielen Erfahrungen göttlicher Hülfe und mein festes Vertrauen ließen mich nie ganz sinken. Wenn die Noth auch dringend wurde, so fehlte mir die Nothdurft nie; doch entstunden doch wieder Schulden, diese wuchsen allmählig, und ich wußte keinen Ausweg, wie ich sie anders, als durch des Herrn segnende Wunderhand würde bezahlen können. Indessen leitete doch die Vorsehung alles so, daß ich im verflossenen Herbste diese Schulden durchaus bezahlen mußte. Ich machte es wie immer, ich überließ dem Herrn die Sorge und flehete um Hülfe. Nun lebt seit einigen Jahren eine gottselige Dame aus Liefland [Me: Barbara Juliane von Krüdener] mit ihrer Tochter hier. Diese beiden stehen mit mir und meiner Familie auf dem vertrautesten Fuß; allein ich verfuhr auch hier wie immer, ich entdeckte ihr von meinen häuslichen Umständen ganz und gar nichts. Am Schluß des Jahres 13 und Anfang des Jahres 14 zog ein Theil der russischen Armee hier durch, die der Kaiser Alexander selbst anführte, und hier bei dieser Gelegenheit seine Schwiegermutter, die Frau Markgräfin besuchte. Weil ich nun bei dieser vortrefflichen Fürstin oft zur Tafel gezogen wurde, so fragte sie mich bei einer solchen Gelegenheit, ob ich den Kaiser Alexander nicht zu sprechen wünschte. Ich antwortete, ich wünschte ich wohl, wenn es bei einer schicklichen Gelegenheit geschehen könnte. Hierauf trug sie das dem Kaiser vor, sie bat ihn oft, er möchte doch dem geheimen Hofrath Jung Audienz geben; allein der Kaiser schlug das immer aus, und sagte, er habe zu viel zu thun, um neue Bekanntschaften zu machen; demungeachtet bat ihn die Markgräfin am letzten Abend vor seiner Abreise noch einmal dringend, er möchte doch ihr den Gefallen erzeigen und dem geheimen Hofrath Jung eine Audienz geben; allein er war unerbittlich. – Auf einmal wurde der Kaiser aufmerksam und sagte lebhaft: Wohnt nicht Stilling hier? Nun, antwortete die Markgräfin und ihre Tochter, die Königin von Schweden, eben so lebhaft: Ei! das ist ja eben der Hofrath Jung! wir wollen ihn rufen lassen. Nein! versetzte Alexander, mit dem habe ich viel zu sprechen, das verspare ich, bis ich wiederkomme. Dieses ließ mir nun die Markgräfin sagen. Von nun an begannen sich deutliche Ahnungen in mir zu entwickeln, die aber mehr auf meinen künftigen Wirkungskreis, als auf meine ökonomische Lage Bezug hatten; doch wurde ich auch wegen dieser noch ruhiger.
Nun kam auch die Gemahlin Alexanders, Kaiserin Elisabeth – diese liebenswürdige Engelsseele – hierher zu ihrer Mutter. Ich wurde bald mit ihr und ihren drei Hofdamen bekannt, welche alle drei wahre Jüngerinnen des Herrn sind. Eine unter ihnen, Roxandra von Sturza, Tochter eines Fürsten aus der Wallachei, schloß sich enger an mich an, und ich fand in diesem Mädchen von 28 Jahren eine weit geförderte, mit dem verborgenen Leben mit Christo in Gott innig bekannte Christin. Wir schlossen einen Bund mit einander, dem Herrn treu zu bleiben bis in den Tod und lebenslänglich zu korrespondiren.
Da die Aerzte mir, meiner Frau und unserer Karoline das Badener Bad verordneten, weil ich viel an Magenkrämpfen litt, und die beiden Andern das Bad noch nöthiger war als mir: so gerieth ich in eine große Verlegenheit, denn es fehlte mir an Gelde, die Kosten zu bestreiten. Meine Liefländer Freundin merkte das. Sie ging und brachte mir 200 Fl., welche, wie ich nachher erfuhr, von meiner Freundin Sturza waren. Wir gingen also nach Baden; die Kaiserin aber mit der Markgräfin, ihrer Mutter, und ihrer Schwester, der Königin von Schweden, nach Bruchsal. Nach ein Paar Wochen bekam ich Briefe, ich möchte dahin kommen, der Kaiser sey da. Ich fuhr also Samstag den 9. Juli nach Bruchsal und ging ins Schloß zu der Markgräfin, wo auch die Kaiserin schon war, und der Kaiser bald darauf ankam. Ich sagte ihm, daß ich mich glücklich schätzte, den Befreier Deutschlands zu sehen. Dieses lehnte er sehr bescheiden ab und sagte: Was Gutes geschehen ist, kömmt vom Herrn und alle Fehler gehören uns zu. Dann sagte er mir viel Verbindliches, und ich bat ihn, mir eine Audienz unter vier Augen zu bewilligen, weil ich ihm Dinge von Wichtigkeit, das Reich Gottes betreffend, zu eröffnen hätte. Er that dies mit Vergnügen und bestimmte mir den andern Tag, Sonntags Morgens 9 Uhr zu ihm zu kommen. Ich bereitete mich mit Gebet in der Gegenwart Gottes zu dieser wichtigen Stunde vor und ging dann zur gesetzten Zeit zu ihm hin, und wurde auch gleich in sein Kabinet geführt. Er empfing mich, wie man einen sehr lieben Freund empfängt, nahm mich bei der Hand und führte mich an einen Stuhl, wo ich mich setzen mußte. Nun setzte er sich nahe vor mich, weil er etwas schwer hört und faßte mich bei beiden Händen. Nun trug ich ihm die Angelegenheitn der Kirche Gottes vor. Ich sagte: Der Frieden, den Sie gemacht hätten, würde nicht lange dauern, die göttlichen Gerichte würden streng und unaufhaltbar fortgehen, bis alles geweckt wäre, was sich wecken ließe. Dann aber würde es zur allgemeinen Scheidung zwischen Christen und Antichristen kommen. Diese würden dann von der Erde vertilgt, und jene die Bürger des Reichs des Friedens werden. Der Kaiser hörte aufmerksam und beifalllächelnd zu, dann sagte er: Es ist aber doch nicht zu leugnen, daß ganze Schaaren Menschen durch die göttlichen Gerichte erweckt worden sind. Ich antwortete: Ja wohl, Ew. Majestät! einzeln in der Zerstreuung, aber die Masse der Nazionen ist wahrlich schlimmer geworden! Dieses gestand der Kaiser ein. Dann erzählte er mir viel von der englischen Bibelmissions= und Tractat=Gesellschaft, die er alle, auch die Quackergesellschaft besucht habe u. s. w. Er versicherte dabei, daß er alles anwenden wolle, um in seinem Reich die wahrhaft praktische Religion in Aufnahme zu bringen.
Der Kaiser sprach ganz offen und ohne Rückhalt mit mir; daher erforderte nun auch meine Pflicht, seine Worte zu respektiren. Ich erfuhr indessen vieles, worüber das Publikum ganz anders urtheilt, als es sich in der That verhält.
Hierauf stellte ich ihm weiter vor: Es würden noch schwere Zeiten über die Abendländische Christenheit kommen, und die Menschen der Sünde würden bald offenbar werden, und dann sey ein Bergungsort nöthig, wohin die bedrängte Heerde des Herrn fliehen könnte, und dazu finde sich in den Staaten Sr. Majestät eine Vorbereitung im Kaukasischen Gouvernement, wo schottische Missionarien eine Kolonie angelegt hätten. Der Kaiser erinnerte sich dieser Anstalt, und äußerte sich sehr gnädig über diesen Punkt. Nun wurde wieder von andern Angelegenheiten gesprochen, doch bald kam der Kaiser auf religiöse Materien zurück. Er legte von seinem Innern ein sehr demüthiges Bekenntniß ab, und fragte mich darauf: welches ich denn für die eigentliche wahre und praktische Uebung des Christen hielte? Ich antwortete: Die eigentliche wahre Praxis eines Christen besteht in 3 Stücken:
1) in gänzlicher Uebergabe alles eigenen Willens.
2) in beständiger Einkehr und im Bleiben in der Gegenwart des Herrn.
3) in dem beständigen innern Herzensgebete.
Dieses frappirte den Kaiser so, daß er mir beide Hände drückte und mit funkelnd=nassen Augen sagte: Das ist auch meine innigste Ueberzeugung! Hierauf fragte er mich: welche unter allen christlichen Konfessionen mir die beste zu seyn deuchte? – Ich antwortete: der Herr habe unter allen die Seinigen. Dieses bejahte Alexander und äußerte sich dann dahin, daß Ihm die Brüdergemeine besonders gut gefiele, welches ich denn auch bekräftigte. – Nachdem denn noch Eins und Anders war gesprochen worden, was aber hieher nicht gehört, so wünschte ich ihm Glück, daß er so viele fromme erweckte Seelen an seinem Hofe hätte. Auf seine Frage: wen ich meyne? nannte ich Ihm verschiedene Personen, vorzüglich die Sturza, und fügte hinzu, daß ich mit dieser einen Bund gemacht hätte auf die Ewigkeit, dem Herrn treu zu bleiben bis in den Tod. – Jetzt stand der Kaiser auf, drückte mir beide Hände und sagte: Nun, und diesen wollen wir Beide auch schließen, treu zu bleiben bis in den Tod. Dann schloß er mich in seine Arme und küßte mich, und ich ihn auch, worauf er wegging. – Eine Stunde nachher wohnte ich mit meinen beiden Töchtern einem feierlichen Griechischen Hochamte bei, das aber nur dem Kaiserpaar und den ersten Hofbedienten gehalten wurde. Der Choral der Russen ist vierstimmig und über alles schön und feierlich. – Musikalische Instrumente brauchen sie nie bei dem Gottesdienste, auch singt nicht die Gemeine, sondern ein Sängerchor.
Des Mittags speisete ich (so wie des vorigen Tages geschehen war) mit an der Kaiserlichen Tafel von 50 – 60 Gedecken, wo ich eine Menge wichtiger Personen kennen lernte.
Nach der Tafel kam ein Kavalier zu mir, der mir ankündigte, daß mir die Kaiserin eine jährliche Pension von 300 Fl. bestimmt habe. Ich wußte nicht, wie mir geschah, so unerwartet war mir das. Ich ging also zu der Kaiserin, Ihr meinen Dank abzustatten; allein sie benahm sich dabei so, als ob sie mir noch danken müßte, daß ich es annähme.
Nun fuhr ich mit meinen Töchtern wieder ab, und des anderen Tages nach Baden. Der Kaiser ging wieder nach Petersburg, wo er die merkwürdige Verordnung ergehen ließ, daß man in den südlichen Provinzen Rußlands Anstalten zu Kolonien=Anlagen treffen möchte; wonach er nach Wien reis’te. Die Kaiserin mit ihrem Hofe kam aber nach Baden. Hier wurde mir nun das Dekret zu meiner Pension von 300 Fl. ausgefertigt, und mir zugleich für das laufende Jahr 150 Dukaten in mein Logis gesandt. Das war aber noch nicht genug, denn meine Schulden mußten ja auch bezahlt werden; dazu hatte mein himmlischer Führer auch Rath geschafft, ohne daß ich das geringste dazu beigetragen hätte. Denn ganz unerwartet kam ein Brief vom russischen Kultusminister, Fürst Alexander Gallizin, an meine Liefländische Freundin, Frau von Krüdener, mit dem Auftrage mir den einliegenden Wechsel von 2000 Fl. einzuhändigen. Jetzt wurden auch meine Schulden bezahlt. Woher die 2000 Fl. kamen, das weiß ich nicht; vom Kaiser waren sie nicht. – Noch nicht genug, was ich damals, 1814, nicht wußte, und was Niemand wußte, daß nämlich wieder Krieg werden würde, und daß mir die Besoldung nicht würde ausgezahlt werden können, das wußte der Herr! Und nun höre:
Im verwichenen Monat November kam gedachte Frau von Krüdener mit ihrer Fräulein Tochter des Abends zu mir, forderte mich mit meiner Frau und Töchter ins Nebenzimmer, und überreichte mir einen Brief vom Fürsten von Gallitzin; dieser enthielt einen Wechsel von 990 Duk[a]ten holländisch, nach dem jetzigem Werth 3960 Rthlr. Berg. Courant. Wir fielen alle auf die Knie und dankten dem Herrn mit Thränen. – Gallitzin schrieb nichts, von wem das Geld herkäme, sondern nur, daß es eine Liebesgabe für mich sey. Uebrigens enthielt der Brief nur brüderliche Liebesergüsse und interessante Nachrichten vom Reiche Gottes in Rußland, der dortigen Bibelgesellschaft u. d. gl. Da ich nun nicht anders vermuthen konnte, als daß das Geschenk vom Kaiser sey, ao schrieb ich an meine Freundin, die Fürstin Sturza, nach Wien, und bat sie, dem Kaiser in meinem Namen zu danken. Diesen Dank hat er lange nicht annehmen wollen, endlich hat er es denn doch anerkannt.“