Jung-Stilling und Johann Heinrich Pestalozzi (1746-1827)

 
 
 
 
 
 
  
 
 
 
Jung-Stilling berichtet in seiner Lebensgeschichte, den "Lehrjahren", von seinem Aufenthalt im Herbst 1802 in der Schweiz. Hier in Burgdorf leitete Pestalozzi zu dieser Zeit eine im Schloß Burgdorf untergebrachte Schule. Jung-Stilling lernte so "auch den berühmten Pestaluzzi und sein Erziehungs-Institut kennen, das jetzt allenthalben so viel Aufsehens macht."
Aber
"Eigentlich ist seine Erziehungs-Methode nicht der Gegenstand, der so viel Aufsehens macht, sondern die Lehr-Methode, der Unterricht der Kinder – dieser ist erstaunlich, niemand glaubt es bis er es gesehen, und gehört hat – aber eigentlich werden dadurch nur die Anschauungs-Begriffe entwickelt, die sich auf Raum und Zeit beziehen; darinnen bringen es diese Zöglinge [S. 580:] in kurzer Zeit zu einem hohen Grad der Vollkommenheit. Wie es aber nun mit der Entwicklung abstrakter Begriffe, dann der sittlichen und religiösen Kräfte gehen, und was überhaupt die Pestaluzzische Methode für Einfluß auf das praktische Leben haben wird, das muß man von der Zeit erwarten. Deswegen sollte man behutsam seyn, und erst einmal sehen, was aus den Knaben wird, die auf diese Art gebildet worden sind. – Es ist doch wahrlich bedenklich, in Erziehungs-Sachen so schnell zuzufahren, ehe man des guten Erfolgs gewiß ist."
Auf die demnächst von der Jung-Stilling-Gesellschaft herausgegeben Arbeit von Reiner Ullrich über Jung-Stilling als Pädagoge sei an dieser Stelle hingewiesen! Zusatz 2003-12-11: Da das Imprimatur bisher noch nicht erteilt wurde, kann nur allgemein auf diese Arbeit verwiesen werden. – Siehe auch dazu unter diesem Link auf meiner Seite.
 
 
Am 1. Oktober 1802 schreibt Pestalozzi Johann Georg Tobler:
"Lieber! Ich glaube, Jung sy gewunen. In Rüksicht auf die intellectuelle Bildung ist er außer allem Zweifel überzeugt. In Rüksicht auf den ganzen Umfang der Erziehung, in so fehrn diese auch moralische Elemente fordert, fühlt er die Lükke, die hier noch da ist, und fragt nach den Mittlen, sie mit der Methode conform auszufüllen.
Er hat schon nach Basel geschrieben, und ich erwarte das Beste. Aber sagen Sie nichts! Hören sie; ich möchte wüssen, wie das Publicum sich über sein Urtheil selber ausdrükt. Er ist ein herzlieber Man.
Freund, grüßen Sie mir von Brunn! [...]"
 
Tobler antwortete am 6. Oktober:
"Die Nachricht wegen Jung freut mich, wie alles, was Ihrer Ansicht und Ihrem Werk Gerechtigkeit wiederfahren läßt. Es freut mich um so mehr, da Jung sich vorher etwas selbstgefällig äußerte: Ja, ich will das Pestalozzische Ding auch einmal mit meinen Fühlhörnern befühlen! und einen Tag vor seiner Abreise aller Aufklärung und allen Versuchen zur Aufklärung in einer Rede mit einer solchen Derbheit den Hals brach, daß er viele Leute ärgerte. Freilich mögen alle Partheyen unrecht haben, indem es nur eine ächte Aufklärung giebt und diese wirklich noch nicht existirt." [...]
 
Trotz unterschiedlicher Ansichten in der Erziehungsmethode verfasste Pestalozzi ein Gedicht auf Jung-Stilling, von dem man nicht weiß, ob Jung-Stilling es je erhalten hat. Die Datierung ist im Allgemeinen auf "um 1802" angesetzt. Die Zeile " O Gott, dreißig volle Jahre war ich jezt nichts" lässt auch auf das Jahr 1776 schließen, wie das "jetzt" nahe legt. Zu dieser Zeit hatte er das Gut Neuhof in eine Erziehungsanstalt für arme Kinder umgewandelt. 1776 konnte er noch nicht wissen, dass dieses Projekt 1779 scheiterte. Andererseits will Pestalozzi wieder "anknüpfen", was dann wiederum auf nach 1800 schließen lässt.
 
Erstmals gedruckt scheint dieses Dokument zu sein durch
August Messer: Pestalozzi an Jung=Stilling. – In: Philosophie und Leben. Hrsg. v. August Messer. 3. Jg. H. 7, Leipzig: Meiner Juli 1927, S. 191-193.
(Unterz.: A. M.; Besitzerin: Karoline Elisabeth Huth, geb. 19.04.1848 zu Seeheim an der Bergstraße, gest. Darmstadt 14.01.1923; aus ihrem Besitz übergegangen an Lehrer Georg Politsch, Nieder-Ramstadt bei Darmstadt. Auf dem Umschlag des Zeitschriften-Heftes heißt der Artikel: "Pestalozzi an Jung=Stilling, ein neu entdeckter Brief".)
 
Selbstverständlich findet er sich auch in der 13bändigen Ausgabe "Johann Heinrich Pestalozzi. Sämtliche Briefe. Hrsg. vom Pestalozzianum und von der Zentralbibliothek in Zürich". Bd. 4, Nr. 855, S. 94-95, Anm. S. 552 f.; die hier vorhandenen eckigen Klammern sind durch geschweifte ersetzt worden.
 
 

Das Gedicht lautet:

"Mein Leben, an Herrn Hofrath Jung.
{um 1802}.
In der Unschuld Kinderbrust schlug mir das Herz schon:
Das Volk ist ellend - ich möchte ihm helfen.
Unbärtig, ungeschikt und aller Hülfe entblößt
Griff ich als Jüngling das Werk an,
War in Armuth und Ellend Vater der Waisen,
Fühlte, daß ich es syn konte, lehrnte es zu syn,
War nichts anders,
Konte nicht anders syn
Und vermocht's doch nicht zu bleiben.
O Gott, dreißig volle Jahre war ich jezt nichts
Und vermocht nicht wieder zu werden,
Was ich allein syn konte,
Was ich allein syn wollte.
O Gott, dreißig volle Jahre konte ich
Den Faden nicht wieder anknüpfen,
Wo ich ihn gelassen, und lebte
Das Leben des Wurms, den der Wanderer
Unter seinen Füßen zertrittet,
Ohne daß er es weiß.
Meine Sinnen schwanden,
Mein zerrissenes Ich war nicht mehr
Sich selbst gleich.
O Jung! ich erlag - ich verlohr mich selbst,
Ich verlohr mich ganz selbst,
Nur nicht die Liebe;
Ich verlor die Liebe nie.
Wenn ich ein Kind im tiefsten Ellend auf meinen Schoß sezte, [S. 95:]
Und ihn's nur ansah,
So vergaß ich mein Ellend,
Und die schwarze Verzweiflung
Tobte nicht mehr in meinen Aderen.
Aber meine Kräfte schwanden,
Und ich schien unrettbar verlohren
Für alles,
Für mein Weib, für mein Kind,
Für meine Zwekke;
Ich schinn unrettbar verlohren
Für alles.
In dieser Nacht meines Seins versunken,
In disem Tod meiner selbst
Erschinn mir wieder ein Strahl von Hofnung:
Ich köne wieder werden,
Was ich allein syn konte,
Was ich syn wollte.
Da trieb's mich, wie wenn mich
Ein Himlischer geißelte,
Ich ward in meiner Schwachheit stark
Ich vollendete, was ich nicht ahndete,
Und zeigte den Weg, den ich nicht kandt,
Und lehrte, was ich verstand.
Die Wage schnellte -
Das Glük zweier Jahre
Wog der dreißig Ellend weit auf.
Ich bin gerettet,
Ich bin Vatter von Waisen,
Ich habe Kinder,
Ich kan lieben, ich kann lieben,
Meine Liebe hat Spillraum,
Mein Herz athmet Versöhnung.
Jez wallet mein Herz wieder,
Wenn Sie, Kener der Menschen,
In mir noch Freude nach den Spuren
Des Tobens meiner langen Verzweiflung {finden},
{So ist's, weil} ich wieder ein Strahl {des Lichts},
{Weil ich} wieder werden konte,
Was ich imer syn wollte."
 
Bisher ist m. W. nicht beachtet worden, dass Johann Friedrich Mieg (1744-1819) mit Pestalozzi seit 1782 korrespondierte. Mieg war zu dieser Zeit Oberhaupt der kurpfälzischen Illuminaten und zugleich "Engster Heidelberger Freund Jung-Stillings, mit dem er bis zu seinem Lebensende verbunden blieb". So schreibt Gerhard Schwinge in seinem grundlegenden Aufsatz "Affinität und Aversion Jung-Stillings Verhältnis zum Freimaurertum und zum Illuminatenorden" (a. a. O.). –
 
 
Nebenbei: Im von Konrad Friedrich Uden 1785 herausgegebenen Almanach
"Ephemeriden / der / gesammten / Freimaurerei / in / Deutschland / Auf das Logenjahr 5786 [= 1786] / - / [Vignette] / - / Altona / gedruckt und verlegt von F. D. A. Eckhardt / Königl. Dän. privil. Buchdrucker." wird Jung-Stilling unter dem 12. September (seinem Geburtstag) genannt. – Im von Karl Friedrich Bahrdt (1741-1792) herausgegebenen "Kirchen= und Ketzer= / Almanach / aufs Jahr / 1781. / - / [… grch. Motto; Plato crit.] / - / Häresiopel, / im Verlag der Ekklesia pressa."
liest man S. 118-119: Johann Friedrich Mieg, Autor der "Vertrauten Briefe des Grafen von B. über den Zustand der Wissenschaft in Wien", "Er soll ein junger, feuriger , heller Mann seyn, der anfangs, als er nach Heidelberg kam, viel reformiren wollte, hernach aber plötzlich nachgelassen hat." (In einem Druck des Almanachs ist S. 247 verdruckt zu S. 215, im anderen ist der Fehler korrigiert, dafür ist aber ein schlechteres Kupfer beigegeben.) – Zu Jung-Stilling und Mieg in der "Urania" siehe hier!
 
Auch er erwähnt Pestalozzi nicht, wie auch die Anmerkung in der von Gustav Adolf Benrath herausgegebenen Lebensgeschichte auf weitere als biographische Hinweise zu Pestalozzi verzichtet.
Schwinge fährt a. a. O. fort:
"Diese enge persönliche und familiäre Verbindung zwischen Jung und Mieg verwundert sehr, wenn man weiß, daß Mieg 1781/82 das Oberhaupt der kurpfälzischen Illuminaten gewesen war [… Jung-Stillings] anhaltende Freundschaft zu Mieg ist deshalb entweder nur mit seiner in persönlichen Dingen oft erstaunlichen Toleranz zu erklären oder mit einer geheimen, wenigstens partiellen Sympathie gegenüber einem freimaurerischen Geheimorden."
Pestalozzi redet an: "Epictet de Alfred." – Epictet war der Hehlname für Mieg!
 
Siehe auch Herbert Schönebaum: Der junge Pestalozzi 1746-1782. Leipzig: Reisland 1927.
 
Vielleicht sah Jung-Stilling seine Zugehörigkeit zum Freimaurertum und zum Illuminatenorden ähnlich wie Friedrich Nicolai, wenn dieser in seinem Brief an Höpfner aus Kleinschönebeck am 15. Dezember 1794 schreibt: "Alle Staatsleute und Gelehrte, welche aus Neugierde (so wie ich) in diese Gesellschaft getreten waren, traten zurück, sowie sie sahen, daß es Nichts als Dinge waren, die nach Utopia gehörten. Dalberg, Goethe, Herder, Sonnenfels, Friedrich Jacobi und Andre mehr waren Illuminaten und traten ab, nicht, weil es etwas Böses war, sondern weil sie mit Grillen nicht die Zeit verderben wollten."
 
1787 scheint Jung-Stilling bereits mit der Freimaurerei fertig gewesen zu sein. Er schreibt: "Jene dreyfache Ursachen sind also der Grund aller alten und neuen Mysterien; ihre ganze Einrichtung war ein vortrefliches ad interims Mittel, die moralischen Kräfte zu erhöhen, und sie gegen den Hang der Sinnlichkeit überwiegend zu machen. Die Freymäurerey hat den nemlichen Zweck und Ursprung, aber Gott! wo ist diese hin versunken!"
 
Die Zeitereignisse machten dann die/eine neue Pädagogik besonders für Preußen notwendig, um nach der Doppelschlacht von Jena (Napoleon) und Auerstedt (Davoust) wieder ein lebendiger Staat zu werden.
So besuchte Reichsburggraf von Dohna-Wundlack das Institut Pestalozzis in "Yverdun, am Neufschateller See, im Septbr. 1805." und schrieb darüber in der Königsberger Zeitschrift
"Vesta. / / -====- / / Für / / Freunde der Wissenschaft und Kunst. / / Herausgegeben / / von / / Ferdinand Frh. von Schrötter / / und / / Max von Schenkendorf. / / --°°°°°°°°-- / / Zweiter Band. / / September. / / --°o°-- / / Königsberg, 1807. / / Gedruckt bei Heinrich Degen. / /"
 
S. 22-29 seinen Aufsatz "Ueber Pestalozzi und dessen Erziehungs=Institut." und schreibt hier S. 24 f.:
Man will in diesem Alter und auf dieser Stufe der Kultur, durchaus nicht auf das Wissen arbeiten, oder doch nicht hauptsächlich, auf das Können, indem dies sonst geschwächt wird, jenes aber immer wieder, und mit um so schnellern Schritten eingeholt werden kann, als man weiter
vorgerückt ist im Können oder in der Kraft. Pestalozzi sagte mir: "Ruhe und Kraft sind die Zielpunkte wohin wir wirken; Zufriedenheit mit der Lage, mit den Verhältnissen, worin das Schicksal einen jeden einzelnen gesezt hat, - durch die Mittheilung einer genauen Kenntniß des Kreises worin er sich befindet, der Kräfte die er hat, durch Belebung des Gefühls, für das Gute, und religiöse Bildung. Dann folgt die Ausbildung des Verstandes, der Fähigkeit, alles vorkommende schnell aufzufassen, sich in den Fällen, welche in dem angewiesenen Kreise vorkommen, selbst zu helfen, und endlich: Die Ausbildung des Vermögens etwas zu schaffen, auf eigenem Wege herauszusuchen, (zu erfinden,) sowohl im mechanischen als geistigen. Dies ist eine Folge die bei denen, welche glückliche Natur=Anlagen haben, durch diese Art der Ausbildung von selbst entsteht, welche dergleichen Subjecten natürlicherweise den Besiz von Vortheilen gewährt, die sie sich bei der bloßen Selbstentwickelung, wenigstens nicht alle, vielleicht gar nicht hätten zu eigen machen können."
 
Auch Jung-Stillings Freund Johann Ludwig Ewald schrieb zur neuen Pädagogik:
Johann Ludwig Ewald: Geist und Fortschritte der Pestalozzischen Bildungsmethode, psychologisch entwickelt; ein Versuch. Mannheim und Heidelberg, in der Schwan und Götzischen Buchhandlung 1810.
 
Schon zuvor hatte ein anderer die neue Methode bekannt gemacht:
Briefe aus Burgdorf über Pestalozzi Seine Methode und Anstalt. Ein Versuch die Pestalozzische Methode nach ihrem Geiste und ihren Grundsätzen sowohl, als nach ihren Elementar= / unterrichtsmitteln darzustellen, und ihre Ausübung zu erleichtern. - Von Anton Gruner Oberlehrer an der Musterschule zu Frankfurt am Mayn. Zweite unveränderte mit vier neuen Briefen vermehrte Ausgabe. - Frankfurt am Mayn 1806, bey J. C. B. Mohr.