Siehe nun:  Jung-Stilling als Rezensent und Protokollant. „Mich kümmerts nicht, was alle Rezensenten sagen, mir ist die Schmach Christi lieber als ihr Lob.“ < unvollständiger Entwurf > von Petra Mertens-Thurner.


 

Im Jahr 1775 veröffentlichte Jung-Stilling – nach seiner Aussage in einem Brief – die beiden folgenden Rezensionen. Die erste vermutete man schon seit Jahren für Jung-Stilling; sie wurde auch nachgedruckt. Da man den Brief nicht beachtete, vermutete man nur seine Autorschaft, die nun durch diesen Brief ebenso gesichert ist, wie die zum zweiten Text, der bisher als verschollen bzw. als unauffindbar galt.
 
Was Jung-Stilling von Rezensionen hielt und wie er sie zu schreiben gedachte, das findet man auf anderen Seiten meiner web-site.
  
 
 
 
 

 
Text 1:
 
„Magdeburg. In dem Verlag der Scheidhauerschen Buchhandlung ist schon 1774 herausgekommen: Der graue Staar und dessen Herausnehmung, nebst einigen Beobachtungen beschrieben des Werks von Johann Kaspar (Casper) Hellmann, Stadtchirurgus zu Magdeburg, 368 S. in 8. Schon wieder ein neues chirurgisches Werk, das blos zu dem Ende geschrieben wurde, seinen Verfasser bekannt zu machen, wie er aufrichtig in der Vorrede gesteht. Diesen Endzweck zu erlangen, wäre aber schon die Tabelle genug gewesen, als welche anzeigt, daß Hr. H. in 8 Jahren 50 Staarblinde operirt, wovon 32 gut, 10 ziemlich, und 8 gar nicht sehen. Saint Yves schrieb nicht bis nach 30 Jahren vom Anfang seiner Praxis an, Janin wartete 20 Jahre, eh er sein vortrefliches Werk herausgab, wie viel Schönes, Gutes und Nützliches haben sie aber auch gesagt, und sagen können? - Wir lassen uns nicht in eine nähere Recension dieses Buchs ein; ein jeder mags selbst prüfen, denn des Kaufens ist’s immer werth, er erhält doch die Geschichte des grauen Staars und der Ausziehung desselben, wie auch die verschiedne Verfahrungsarten dieser Operation, gleichsam in Compendio, daher es dem Anfänger immer nutzen kann, in welcher Absicht wir es auch empfehlen können.“
 
 
 
Text 2:
Frankfurt am Mayn.
Vertheidigung der Mystick und des Einsied=
lerlebens, gegen Herrn Leibarzt Zimmer=
mann in Hannover, von Jakob Hermann
Obereit, Doktor der Philosophie im * Bo=
densee. Bey den Eichenbergischen Erben,
136 S. in 8vo.
 
Herr Leibarzt Zimmermann hat, wie bekannt,
ein sehr angenehmes Büchlein von der Einsamkeit
geschrieben. Daß nun dasselbe seine eigene Grund=
sätze enthält, wie sich solche der Herr Verf. nach
seinem Religions= und Sittensystem ausgedacht,
und die er vor die besten erkannt hat, ist kein Wun=
der. Der Mensch ist nach seiner Art zu denken auch
individuell, und wir müssen ihn hochachten, wenn
seine Grundsätze Liebe zu Gott und den Nächsten
einflößen, und wer wird das dem Verfasser des
Büchleins von der Einsamkeit absprechen! – Para=
doxe Sätze hat er nicht, aber wohl solche, die dem
mystisch denkenden Leser ein klein bisgen nach Frey=
geisterey schmecken können. Endlich erscheint ein
wunderbares Phänomen, ein Zimermanns Hand=
langer. Herr Oberreit von Lindau, ein Chirur=
gus und Doktor der Philosophie, hatte vieles ge
gen das Buch von der Einsamkeit einzuwenden,
und schreibt darüber an Herrn Z. bittet ihn dazu
um Gottes, um des jüngsten Gerichts und um
Christi Schmach willen, diese seine Briefe drucken
zu lassen. Was geschieht! Herr Z. läßt ein Ding
drucken, worinnen er selbst rechtschaffen gezaust
      Zzz         und
 
*) Im Bodensee wird wol ein Druckfehler seyn, es
giebt keine Tritonen mehr.
 
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und gezerrt wird, und das ist das Büchelchen, wel=
ches wir vor uns haben. Der Tittel ist nicht Ori=
ginal, sondern verändert, und das ist nicht gut,
warum nicht das Ding genannt, wie es heißt. Der
Herr Verfasser hatte folgenden zu seinem Buche be=
stimmt: Ein Zimmermanns Handlanger, von
Liebesenthusiasten und der allerfreyesten Re=
publik der einsamen. Kiriath Sepher der
Freymäuerinnen D. M. 7275. Aus der Berg=
schottenloge sub rosa. Nach dieser Aufschrift zu
urtheilen, sollte vielleicht mancher abgeschreckt wer=
den zu lesen, und doch müssen wir rathen, was
wir rathen können, es doch zu durchblättern, man
lernt daraus einen zwar seltsamen, aber doch tief=
denkenden wohlmeynenden und recht fest und stark
karakterisirten Mann kennen, der eben wohl viel
wahres und schönes gesagt hat, allein wiederum
eben so individuell, als alle andere originale Schrift=
steller. Die Sache beruht darauf, unsere beyde
Herrn Gegner haben in Ansehung des streitigen
Punkts ganz entgegengesezte Meynungen, Herr O.
fürchtet Schaden für die Religion durch Herrn
Z. Buch, und deswegen sucht er seine Meynunge zu
retten, und andere zu warnen. Ein jeder Denker
ist beynah schaldig [sic; schuldig] dies Büchlein zu lesen.
 
Was die Sache selbsten betrifft, so dünkt mich,
es lasse sich gar nichts allgemeines in dieser Sache
bestimmen. Herr Zimmermann glaubt von den
heiligen einsamen Weibern, daß ihre feurige Triebe
zur Liebe gegen Gott und Christum vornehmlich ih=
ren Ursprung einer Wendung ihrer Leidenschaften
von fleischlichen Gegenständen zu geistlichen zu dan=
ken hätten, daß sich hysterische Zufälle dazwischen
gemischt, und zum Enthusiasmus mit beygetragen
hätten. Hierwieder braucht Herr Oberreit nichts
einzuwenden, es ist eines theils wahr, und andern
theils nichts verkleinerliches. Denn, wenn die Nei=
      gungen
 
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gungen des Menschen von der Sinlichkeit ab, zu
Gott und Christo gewendet, und zu dessen Ver=
herrlichung gebraucht werden, so ist nicht zu for=
dern, daß ganz und gar nichts dazwischen kommen müsse:
gnug, wenn nichts ungereimtes, nichts das die Eh=
re und Liebe Gottes verkleinert, mit unterläuft,
oder das andere Menschen ärgern und ihnen schäd=
lich seyn könnte. Ein anders ist die Neigung zur
Einsamkeit selber. Die einzige wahre Regel ist die=
ses: Wir sollen unsern Nächsten lieben, als uns
selbst. Nun hat ein jeder, der sich aus heiligen
Absichten in die Einsamkeit begeben will, sich zu
prüfen, ob er dem Nächsten mehr Nutzen bringen
könne, wenn er sich ganz von ihm entzeucht, als
wenn er gesellig mit ihm lebet. Findet er bey un=
partheyischer Untersuchung, daß seine Gegenwart
in der Welt wenig nutzen könne, daß er selbst aber
Schaden davon habe, wenn er mit den Menschen
umgehe, indem er den Versuchungen nicht gewach=
sen sey, wohl! so mag ein solcher hingehen und sein
Bestes thun, wir dürfen ihn nicht strafen, aber
das muß ich sagen: Seeliger und heiliger ist der
Mann! der mitten unter den Menschen wohn=
net, sie liebet, ihre Bedürfnisse befriediget,
wo er kann, dienstbar ist, Freund und Feind
herzlich anlächelt, seine stille Stunden auf sei=
nem Kämmergen ohne Gepränge der Heilig=
keit Gott aufopfert, und so unbemerkt seinen
liebsten Lüsten stirbet. Herr O. wird wohl ein=
gestehen, daß diese Lebensart besser ist, ohne jedoch
denen wahrhaftig heiligen Einsamen zu nahe zu
treten, viele sind unerreichbare Muster der Fröm=
migkeit und vortrefliche Menschen gewesen. Herr
Zimmermann hat recht, dem übertriebenen Enthu=
siasmus seine Blöße aufzudecken, denn dadurch
entsteht oft geistlicher Stolz; Tyranney und Into=
      Zzz 3 leranz,
 
656   =
leranz. Herr O. aber soll auch recht haben, wenn
er einige heilige Personen vertheidiget, die würk=
lich ihre Frömmigkeit einer standhaften Liebe, wir
wollen aber deswegen nicht sagen, einer blos ein=
samen Lebensart zu danken hatten.
 
 
 

Hinweise zu Text 2

 
1773 erschien von Johann Georg von Zimmermann (geb. Brugg (Kanton Aargau) 8.12.1728, gest. Hannover 7.10.1795):
 
Von der Einsamkeit.
 
In: Hannoverisches Magazin 1773, 11. Jg., S. 1-60. –
  
Ursprgl. Zürich 1756; 1773 in Leipzig bei Weidmann und Reich; dann gänzlich umgearbeitet ebd. 1784-85, 4 Bde.).
 
Dagegen wandte sich Jacob Hermann Obereit, zu dessen Werk Jung-Stilling eine Rezension schrieb.
 
Zu Oberreit siehe u. a.:
Friedrich Bülau (Hrsg.): Geheime Geschichte und Räthselhafte Menschen. - Sammlung verborgener oder vergessener Merkwürdigkeiten. - Herausgegeben von Friedrich Bülau. - Erster Band. - Leipzig: F. A. Brockhaus. – 1854; S. 383 ff.
 
Später schrieb Jung-Stilling in seiner Zeitschrift Grauer Mann H. 26, 1813, S. 265:
 
„Dann ist es aber auch sehr gut, wenn man sich oft von aller Gesellschaft entfernt und in der Einsamkeit neue Kräfte zum Kampf sammelt. Ein solches Stündchen bringt unaussprechlichen Seegen.“