Jung-Stilling und Kant 

Jakob Salat publiziert 1798 den Aufsatz „Ueber den Beifall, den die Kantische Philosophie bei Schwärmern und Mönchen gefunden haben soll.“

Er schreibt darin über Jung-Stilling:

 

„3) Bekannter, aber in dieser Hinsicht noch immer merkwürdig, ist die Art, wie Hr. Hoft. Jung in Mar [S. 68:] burg mit der Kantischen Philosophie sich befasst und – benommen hat. Da er (ein Mann, welcher unstreitig in Ansehung seiner Schicksale, seines moralischen Charakters und, zum Theil oder in Rücksicht auf jene, selbst als Schriftsteller eine auszeichnende Achtung verdient,) im Ganzen betrachtet, wohl auch in die angezeigte Classe der Mystiker gesezt werden muß; da er überdies bei Vielen, mit mehr oder weniger Grund, im Rufe der Schwärmerei steht, und folglich da oder dort, zur Veranlassung des oben gedachten Einwurfes gegen die kant. Philosophie – nicht wenig beigetragen hat: so möchte hier allerdings der Ort seyn, zu erklären und, so weit der Raum es gestattet, genau zu bestimmen, ob und inwiefern die kant. Philosophie bei diesem Manne Eingang und Beifall gefunden habe.

 

Schon frühe beschäftigte sich Hr. Jung mit dem Studium der kant. Kritik; ja, diese zog ihn dergestalt an, daß er selbst mit Kant in BriefWechsel trat. Es war jedoch bloß oder vornehmlich der theoretische Theil, was ihn dergestalt beschäftigte; und er fand hier die Philosophie (in der Krit. d. r. Vern.) besser als je mit dem Christenthume vereinbar. Als er daher dem Stifter der kritischen Philosophie seinen Dank und seine Ehrfurcht bezeugte, drückte er zugleich seine hohe Meinung von dem Werthe des Christenthums aus. Was uns hier zu dieser Erklärung berechtigt, ist ein Fragment aus Kant‘s Briefe, welches Hr. Snell in seiner Kritik der VolksMoral (S. [S. 69:] 430 der 2ten Ausg.) uns liefert, und das nun, da es einmal bekannt ist, wegen der Verwandtschaft des Gegenstandes auch hier stehen mag: ‚Sie sehen, theuerster Mann,‘ (schrieb Kant dem H. Prof. Jung,) ‚alle Untersuchungen, die die Bestimmung des Menschen angehen, mit einem Interesse an, das ihrer Denkungsart Ehre macht ..... Sie thun auch daran sehr wohl, daß sie die letzte Befriedigung Ihres nach einem sichern Grunde der Lehre und Hoffnung strebenden Gemüthes im Evangelium suchen, diesem unvergänglichen Leitfaden wahrer Weisheit, mit welchem nicht allein eine ihre Speculation vollendende Vernunft zusammentrifft, sondern daher sie auch ein neues Licht in Ansehung dessen bekommt, was, wenn sie gleich ihr ganzes Feld durchmessen hat, ihr noch immer dunkel bleibt, und wovon sie doch Belehrung bedarf. Eine Antwort, welche die Weisheit (und die Humanität) gab, die aber freilich der Unverstand (und die geheime Neigung) für oder wider eine Partei auslegen könnte. Dies letztere zielt jedoch hier nur auf gewisse Urtheile, welche dieses Fragment hin und wieder veranlasst hat *). Und wer sieht nicht, wie Jemand dasselbe aufnehmen könnte, um damit jene angebliche Bemerkung zu unterstützen?

 

* Daß Hr. Jung diese Stelle dankbar aufnahm, und ihren Sinn, wenigstens im praktischen Gefühle und von einer Seite, nicht verkannte, weiß der Verf. der gegenw. Abhandl. aus dem Munde eines seiner Freunde, welcher, auf einer Reise den würdigen Mann damals (1790) in Marburg besuchte.

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Indeß suchte Hr. J. nach einiger Zeit die Principien der krit. Philosophie zum Behufe seiner religiösen Vorstellungen öffentlich anzuwenden: Ewalds Urania v. J. 1792–1793 enthält mehrere Versuche dieser Art. Allein er hielt sich auch da nur an den theoretischen Theil jener Philosophie. Denn obgleich der höhere, moralische Geist, welcher in den Kantischen Schriften weht, auch seinem Geiste, seinem moralischen Gefühle (in der nächsten praktischen Hinsicht) vornehmlich zusagte: so hatte er dennoch auf dem individuellen Wege seines Studium‘s und seiner DenkWeise, sich überzeugt, daß er vermittelst der theoretischen Principien des Kriticismus zur Vertheidigung der Religion, und besonders der Christlichen, d. h. seiner Ansicht von dieser, am meisten beitragen könne. So gerne dringt das Theoretische im praktischen Gebiete überall vor! – Natürlich war der Gebrauch, den er jetzt von der krit. Philosophie machte, im glücklichsten Falle bloß negativ, indem er nach seiner Art zeigte, daß die Vorstellungen von Raum und Zeit, und die Katesgorieen auf das Höhere, Uebersinnliche sich gar nicht beziehen, und daß folglich hier für das Religiöse,Posis tive u. s. w. freies und offenes Feld sey.

 

Die neuere Schrift, in welcher Hr. J. die kant. Kritik zum Besten seiner Theorie wieder anwandte, ist sein ‚Heimweh:‘ ein Buch, das unstreitig bei allem – Sonderbaren manches Schöne, Hervor= [S. 71:] stechende, besonders im 1sten B., enthält, und das auch derjenige, welcher darin überall nur den Geist der Schwärmerei sieht, wenigstens als ein literarisches Phänomen merkwürdig finden wird, wenn er zumal die übrigen Verdienste des Mannes dabei nicht übersieht; und wer kennt nicht z. B. seine leichte und öfters schöne ErzählungsGabe, vorzüglich aus einigen Stücken in der eben genannten ZeitSchrift? – Indem, Hr. J. im 2ten B. den Helden seiner Geschichte durch verschiedene Grade des Unterrichts und der Vorbereitung führt, benutzt er auch da wieder die kant. Philosophie um ihn gegen die Anfälle des Unglaubens zu waffnen, um sein Auge zu schärfen, und zum höhern Lichte ihn vorzubereiten. Er zeigt, unter andern Lehrsätzen, die er aus der Kr. d. r. V. hier wieder aufnimmt, nach seiner Weise gut und treffend, wie uns die Vernunft (als theoretische, Kraft) von dem Höhern, Sittlichen und Religiösen, nichts offenbaren könne, da sie (als solche) in allem, was den wirklichen Gebrauch angeht, auf die SinnenWelt eingeschränkt, und zu nnsittlichen (wie zu sittlichen) Zwecken brauchbar ist: er heißt sie, in dieser Hinsicht, physische Vernunft; und sie erscheint hier allerdings in keinem sehr günstigen Lichte.

 

Man konnte indeß erwarten, daß er auf den nächste folgenden Stufen des Unterrichts, wo von dem Sittlichen und Religiösen die Rede seyn musste, die Vernunft als praktisches Vermögen eben so hin= [S. 72:] aufsetzen würde, als er sie in der erstern Beziehung, nach dem Gange seiner Vorbereitung, herabgesetzt hatte. Man konnte wünschen, daß er sie da als die eigentliche Quelle des sittlichen Gesetzes (zunächst im Menschen) und der Wahrheit im sittlichen Gebiete vorstellen, und etwa – was man an der kritischen Philosophie zum Theil noch vermisst — auch besonders die Schwierigkeiten zeigen möchte, die hinweggeräumt werden müssen, damit die Vernunft als praktisch sich äußern, und glücklich, im höhern Grade und in größerer Ausbreitung, wirken könne. Allein diese Erwartung und dieser Wunsch eines unparteiischen und prüfenden Lesers wurden nicht erfüllt. Zwar redet der Verf. von einem ‚SittenGesetze,‘ S. 276 u. ff., von einem ‚Gesetze, das im Wesen der menschlichen Vernunft verborgen liege‘ u. dgl. Anstatt aber die Wirkung auf ihre letzte und eigentliche Ursache, die Vernunft, zurückzuführen, bleibt er bei dem ‚moralischen Gefühle‘ stehen, ohne dieses je deutlich für eine Wirkung jener Ursache (der ingeheim wirkenden praktischen Vernunft) zu erklären; und nur selten vertauscht er diesen Ausdruck mit andern, noch weniger bestimmten. Der reine, d. i. der eigentliche Antheil der Vernunft an der moralischen Gesetzgebung und an der Bestimmung dessen, was im Gebiete der Sittlichkeit und, mittelbar, selbst der Religion wahr ist, wird mit keiner Sylbe genannt. Erst späterhin, wo der Un= [S. 73:] terricht schon vorbei ist, wird der Ausdruck ‚moralische Vernunft" einmal wie verloren eingewebt. Eine Darstellung wie diese konnte jener Erwartung um so weniger genugthun, da es hier nicht erlaubt war, bei einer MittelUrsache, die nur im wirklichen Leben öfters für die eigentliche Ursache gilt, bei dem moralischen Gefühle, stehen zu bleiben, und da es hier besonders darauf ankam, durch bestimmte und deutliche Begriffe eine HauptQuelle des Mysticismus und seiner verderblichen Folgen zu verschließen.

Der Mangel des Ausdrucks ‚moralische Vern. fiel überdies um so stärker auf, je öfter zuvor von der ‚physischen Vern.‘ die Rede gewesen war. Was mir aber zugleich einfiel, und wessen ich mich nicht erwehren konnte, dies war die Frage: ob Hr. J. die Kantische MoralPhilosophie auch wirklich annehme, und ob er insbesondre den wesentlichen Unterschied zwischen theoretischer und praktischer Vernunft je deutlich erkannt und eingesehen habe? Es ist so leicht nicht, das praktische Vermögen der Vernunft zu erkennen; es ist besonders schwer für denjenigen, welchem, bei einem regen und lebendigen Eifer für das Bessere, auf seinem Wege viele Menschen begegnet sind, denen die Vernunft nur (theoretisch oder wenn man will, physisch) zur größern Befriedigung ihrer Leidenschaften diente; und am schwersten für den, welcher sich zugleich lange an die Vorstellung gewöhnt

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hat, daß die Religion etwas enthalten müsse, was schlechterdings über die Vernunft, und folglich auch, in jeder Hinsicht, über die praktische sey. Wer einmal der Vernunft einen wesentlichen Antheil an dem SittenGesetze (das sich, wie bekannt, als solches auch wesentlich auf den freien Willen bezieht) zugesteht; wer dasselbe, als Gesetz, eigentlich nur aus der Natur oder dem Wesen der Vernunft ableitet: der kann unmöglich annehmen, daß es in der Religion etwas gebe, welches (der Art, nicht bloß dem Grade und dem allumfassenden, religiösen StandPunkte nach) über das Sittliche und folglich über die Kraft sey, aus welcher das SittenGesetz in uns hervorgeht.

 

Durch die Art und Weise, wie dann Hr. J. in Sachen der Religion weiterhin demonstrirt und, was jetzt nothwendig hinzukam, vernünftelt und besonders wie er zu einer höhern Stufe des Unterrichts aufsteigt, und hier die positive Religion, oder auch die Religion überhaupt, in jedem Verstande über die Vernunft setzt; wie er nun eben die physische Vernunft, als logisch und, in seiner Anwendung, transcendent, oder dienstbar einem willkürlichen Stoffe gebraucht, und wie ihn dieselbe täuschet: dadurch wurde der Zweifel, den jene Frage mir darbot, verstärkt, oder vielmehr das Urtheil durch den geraden Anblick der Sache, ohne weitere Rücksicht, bestimmt. Und bei der zufälligen Erinnerung an Menschen von gleicher Denkungs= [S. 75: ] art, an solche, die auch dem ersten Anscheine nach Kant‘s Moral annehmen; die auch von einem,,Gesetze des Guten, von einem heiligen Gesetze in uns reden, aber schon die Frage scheuen: wer denn eigentlich in uns dieses Gefetz gebe? und den Beweis, daß die Vernunft es seyn müsse, nimmermehr aushalten; gewiß weil sie daher für die Theorie ihres bisherigen Glaubens, oder für ihre mystische HandlungsWeise besorgt sind; – bei dieser Erinnerung konnte ich mir die Vorstellung nicht versagen:

daß die Männer von dieser Stimmung des Verstandes und Herzens die Kantische Philosophie zwar insoweit annehmen, als sich dieselbe dem Eigennutze, der groben oder verfeinerten Eigenliebe entgegensetzt, und ein Gut anerkennt, welches über die Sinne und den (bloß denkenden) Verstand des Menschen geht; daß sie aber dessungeachtet den eigentlichen Beweis der kant. Philosophie, besonders in Ansehung der praktischen Vern., weder angenommen, noch jemals, im Begriffe oder in wissenschaftlicher Hinsicht, recht gefasst haben *).

 

Aus der bisherigen Erörterung ist es nun, wie mir däucht, hinlänglich klar, wie viel an der Bemerkung wahr

*) Doch kennt der Verf. auch solche, die, vorhin jenem (bessern) Mysticismus ergeben, nun durch die neuere Philosophie – die Kritik und die Wissenschaftslehre — zur reinern Ansicht gelangt sind.

[S. 76:]

sey, daß die Kantische Philosophie bei dieser Gattung von Mystikern, oder – wofern man, unter der Bedingung des vorhin gemachten Unterschiedes, so will — bei den Schwärmern, besonders viel Eingang und Beifall gewonnen habe.

 

In Ansehung der Mönche können wir uns kürzer fassen; denn […].“