Nachwort von Jung=Stillings Schwiegersohn
 – zugleich Namens der übrigen Kinder des Verstorbenen –
zur Lebensgeschichte


Bisher ist der folgende Text nur selten nachgedruckt worden, so z. B. in der Ausgabe der Lebensgeschichte von Pfeiffer-Belli. In der Version des Hörbuchs ist er jedoch vorhanden.

 


Nachwort
Von
Jung=Stillings Schwiegersohne,
dem
Großherzogl. Badischen Geh. Kirchenrath und Prof. der Theologie,
Dr. Schwarz zu Heidelberg;
Zugleich
Namens der übrigen Kinder des Verstorbenen.
(Zweite Auflage mit einigen Umänderungen. 1835.)
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Wir übergeben Stillings letzte Arbeit, den Anfang des 6. Bandes von seinem Leben, der leider nur zu sehr Anfang geblieben ist, dem Publikum und den Freunden ganz so, wie er ihn niederschrieb, in unveränderter Gestalt. Wir glauben dieses sowohl dem Verfasser als seinen Lesern schuldig zu seyn, und müssen daher selbst ein gewisses Gefühl der Schicklichkeit verläugnen, inwiefern von uns in dem Buche gesprochen ist. Stilling muß in aller seiner Offenheit und Redlichkeit, wie er sich von Anfang an gegeben hat, bis an sein Ende dastehen. Wer möchte auch an seinem Werke Etwas ändern wollen?
Derselbe Grund bestimmt uns, ihn in seinen letzten Tagen und Lebensstunden zu zeigen, so wie er bis zum Uebergang in seine Heimath lebte, dachte und sprach; und wir sahen es gerne, daß sein ältester Enkel alles treulich auffaßte, und mit denjenigen Empfindungen niederschrieb, die dem Enkel geziemten. Auch hier mußte das kindliche Gemüth alles erzählen, wie es war.
So hielten wir es den Lesern und Freunden Stillings am, meisten angenehm, und so hielten wir es auch dem Vollendeten und seiner Wirksamkeit angemessen. Er steht von seinem Lebensanfang bis an sein Lebensende in seiner wahren Gestalt da. Seine Geschichte weiter zu schreiben, als seine eigene Erzählung reicht, hat er, mit allem Recht, untersagt; und die Sache untersagt es. Zu so Etwas darf nichts Fremdartiges hinzukommen, und Stilling war so sehr er selbst, daß Alles, was auch seine Vertrautesten als Fortsetzung schreiben würden, fremdartig bleiben würde; oder wie seine Tochter Karoline sich über ein solches Versuchenwollen ausdrückte: 'Das kann Niemand von uns Allen, nur Er konnte in dem Kinderton fortschreiben, und nur Er so mit Kinderaugen die göttlichen Führungen enthüllen: ich wenigstens könnte nichts beitragen. Die ganze Geschichte seines Alters liegt einem schönen himmlischen Gemälde gleich vor meinem innern Auge, aber so wie ich ihm näher treten will, Etwas herauszuholen, fließt es in ein ganzes zusammen, und ich ziehe mich ehrfurchtsvoll zurück.'
Indessen dürfen wir chronologisch die Hauptbegebenheiten angeben von der Zeit an, wo seine Beschreibung aufhört.
Der Aufenthalt unserer Eltern in Baden=Baden, womit dieses Fragment endigt, fällt in den Sommer 1805.
In dem Frühling 1806 zogen sie von Heidelberg nach Karlsruhe. In den folgenden Jahren befanden sie sich gewöhnlich während der Sommerzeit in Baden, wo sich auch der Hof während der Kurzeit aufzuhalten pflegte. Auch brachten sie einige Male die Sommermonate bei Freunden in Bar im Elsaß an den Vogesen zu, wo die milde Luft ihrer Gesundheit zusagte.
In dem Jahr 1811 starb den 10. Juni der höchstselige Großherzog, Karl Friedrich von Baden, dieser unvergeßliche Fürst, als gerade unser Vater auf einer Reise abwesend war. Die ausgezeichnete Gnade des verewigten Herrn gegen seinen treuergebenen Verehrer und Freund erbte auf den erhabenen Thronfolger fort, und nie dachte unser Vater anders auch an diesen, als mit tiefem Dank und Segenswunsch.
Mit jedem Jahr wurden die körperlichen Uebel unsern Eltern mehr fühlbar; indessen verließ sie nicht die hohe Christenkraft, und somit auch nicht die Heiterkeit, womit sie selbst in den oft bedenklichen Kriegsläufen der Zukunft getrost entgegen sahen, und wodurch ihr Kreis von Hohen und Niedern gesucht wurde.
Im Frühling 1813 besuchten sie ihre Kinder in Heidelberg, und gewährten diesen, so wie nicht wenigen Einwohnern dieser von ihnen so heimathlich geliebten Stadt, festliche Stunden und Tage.
Diesen Besuch wiederholten sie im Frühling 1816. Allein ihre damals schon völlig sinkende Gesundheit, wo die ungünstige Witterung alle Stärkung versagte, ließen uns keine solche Familienfeier mehr hoffen. Nur wenige Stunden des Tages fand sich der ehrwürdige Greis stark genug zur Unterhaltung; dann war er aber noch mit seiner herrlichen Kraft für alle Anwesende, besonders auch für die Kinder, der angenehm belehrende Gesellschafter; man fühlte sich bei ihm in ein höheres Daseyn gehoben. Als sie uns verließen, die lieben, frommen Eltern, da sahen wir ihnen mit Wehmuth nach, dankten aber Gott, daß uns noch diese gesegneten Wochen vergönnt gewesen. Auch erhob sich wieder einige Hoffnung, als sie noch im Sommer ihre Kinder in Rastadt besuchen konnten, und noch einige Wochen nach Baden gingen. Indessen kamen gegen den Winter hin die Krankheitsübel mit doppelter Macht wieder, so daß wir schon im Christtag das Hinscheiden des treuen Elternpaars befürchteten [.] Sie erholten sich nur Etwas, und nur auf kurze Zeit. Das Weitere sagt die vorstehende Beschreibung. [Siehe Vater Stillings Lebensende.]
Seine Reisen in den letzteren Jahren, die übrigens hier nicht alle angegeben sind, waren immer zugleich für Augenkranke wohlthätig. Noch im letzten Sommer gelangen seiner schwachen Hand, die aber, wie immer, von seiner Glaubensstärke festgehalten wurde, mehrere Staaroperationen. Seit mehreren Jahren schrieb er sie nicht mehr auf, nachdem er über 2000 solcher, die gelungen waren, zählen konnte, nur Wenige waren nicht gelungen; auch verdankte ihm eine nicht kleine Anzahl von Blindgebornen das Gesicht.
Selbst nach seinem Tode blieb noch dem Angesicht seine Würde, und nicht ohne Anmuth. Herr Schmidt der jüngere in Karlsruhe hat ihn so auf dem Leichenbette mit der Umgebung des häuslichen Heiligthums schön gezeichnet, und wir finden den seligen Vater in diesem kleinen Bilde besser getroffen, wie in irgend einem von den mehreren Kupferstichen: daher war es uns erfreulich, daß es die Verlagshandlung als Beilage für gegenwärtige Schrift von einem geschätzten Künstler stechen ließ.
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Nun sey es erlaubt, davon zu reden, wie mir Jung=Stillings religiöser Charakter während unserer beinahe 30jährigen Bekanntschaft erschienen. Und fast möchte ich das bloß in den wenigen biblischen Worten zusammenfassen: Christus hatte in ihm eine Gestalt gewonnen.
Das konnte man recht eigentlich von diesem Manne sagen. Sein ganzes Leben sagt es in seinen Schriften, und mehr noch in seiner Art zu wirken und zu seyn. Das Christenthum, von seiner Kindheit auf seiner Seele sehr bestimmt und kräftig eingeflößt, war mit ihm erwachsen, in seine Thätigkeit so wie in seine Denkart übergegangen, und mit seinem Alter gereift. Auch war es selbst der Gegenstand seiner Wirksamkeit geworden; über nichts dachte er lieber, von nichts sprach er tiefer aus dem Herzen, für nichts fühlte er sich innerlich so sehr berufen, als er für das Christenthum. Er kannte die Göttlichkeit dieser Religion unmittelbar, indem ihr Geist ihn bis in sein Innerstes durchdrungen hatte, und in jeder sonst unbedeutend scheinenden Entschließung heraus wirkte, so daß sein Gemüth hierdurch jene Tiefe, Fülle und Kraft erhielt, die sein Leben so vielen erbaulich und bewundernswürdig machte. Das war die Kraft, die seiner Beredsamkeit das Feuer gab, die aus seinen Augen leuchtete, über sein würdevolles, männlich schönes Angesicht strahlte, von seinem edlen Haupte an in allen Geberden seiner ansehnlichen Gestalt in freier Lebendigkeit, Anstand und Anmuth verbreitete, den Kreis der Hörenden, ihn immer näher herbeiziehend, erheiterte und erhob, welche nah und fern die Herzen gewann, und Hohen wie Niederen einen Mann von der liebenswürdigsten Gradheit, wir möchten sagen Naivetät zeigte. Man sah, man hörte, man las ihn und sagte sich selbst: das ist ein Christ.
Er hatte eine kräftige Natur und eine sprühende Lebhaftigkeit. Das setzte ihn auch so manchen schweren Kämpfen in seinem Jünglingsalter aus. Groß war bei ihm die Macht des weltlichen Sinnes: viel größer die Macht der Religion, und schon in seinem Knabenalter sieggewohnt. Seine Seelenreinheit blieb unbefleckt, und darum war selbst seine körperliche Reinheit von seinem religiösen Sinne gehoben; auch seine geordnete Diät und Nüchternheit hing damit zusammen. Es lag gewissermaßen etwas Orientalisches in seinem Wesen. Nirgends war er Schwächling, jedes seine Worte war Kraft, jeder seiner Gedanken ein starkes Kind seiner Seele, jedes Bild seiner lebenvollen Phantasie trat in scharfen Umrissen hervor und war in brennende Farben getaucht; selbst die Handzeichnungen, womit er sich manchmal in Erholungsstunden versuchte, hatten daher etwa Grelles. So nahm er auch nichts leicht. Sein Naturell neigte vielmehr sich zu einer gewissen Schwermuth hin. Daher die Feierlichkeit in seinem Wesen, und der oft für Andere etwas drückende Ernst, womit er Dinge aufnahm, über die man wohl leichter hinsehen konnte; ihm stellte sich alles, was er vernahm, sogleich in eine Beziehung auf seine Religion. Dieser feierliche Ernst war die strengste Gewissenhaftigkeit; eine sowohl innere als äußere Wahrheit, wie sie uns selten genug scheint. Eben damit hing sein Humor zusammen, wie man ihn bekanntlich an gefühlvollen und großen Seelen manchmal bemerkt. Steht ihnen und ihrem Kreise das Wichtige und Heilige fest, so ist bei ihrem reinen Bewußtseyn ein leichter Scherz seinem Spiel freigegeben, und der Geist kann sich auch bei dem kühnsten Contrast auf das Herz verlassen. Dagegen nahm er alles, was die Religion und Sittlichkeit, und wenn auch durch Nebendinge bedrohte, sehr ernsthaft. Es konnte weder ein ungünstiges Urtheil, noch einen gefährlichen Scherz über jemand, der ihm von einer guten Seite bekannt war, geschweige über Freunde, ohne eine zurückweisende Gegenerinnerung und, wenn er nichts dagegen vermochte, doch mit einem Seufzer anhören.
Nichts entrüstete ihn mehr, als das Bespötteln und Verhöhnen, selbst wenn es nicht grade das Heilige angriff: und dagegen welche Milde, womit er Beleidigungen aufnahm, selbst wenn sie in Grobheiten gegen ihn ausbrachen! Dieser tiefe Ernst zeigt sich in seiner Wahrheitsliebe bei Religionszweifeln von Jugend auf. Sein ganzer Geist war alsdann in Bewegung: oft kämpfte er bis auf’s Blut, um sich Licht und Gewissheit zu erringen. Ja es war, als wenn ein innerer Feind ihm alles Wahre, das ihm heilig blieb, und alles Gute, worin er lebte, von dem Entstehen an streitig gemacht hätte, und ihm, immer neckend, anfocht, und als ob er alles Schritt vor Schritt erringen müsse, um hierin sein treu erkämpftes Eigenthum zu besitzen. Wie sein Glaube von Anfang an fest stand, davon ist sein Stillingsbuch das wahrste und lauterste Bekenntniß. So stellte ihn seine tiefe und kräftige Natur in einen fortsiegenden Tugendkampf, und so machte ihn die Gotteskraft des Evangeliums zu einem Glaubenshelden, der wohl zehnmal Märtyrer geworden wäre. Er lebte sich gleichsam in die ersten Zeiten des Christenthums, wo ihn die Verkündigung des Herrn und die Schmach für den Herrn zu einem apostolischen Streiter würde gemacht haben; weßhalb er auch bei der Apokalypse, als Siegsgeschichte des Christenthums, so gerne weilte. Ueberhaupt zeigte sich in seinem gewaltigen Geistesleben, daß man die Meinung, das Christenthum sey eine Religion der Schwachen, sehr falsch versteht, wenn man nicht hinzu setzt: und darum noch mehr der Starken.
Bei solchem innern Leben und unter solchen Schicksalen – beides verhält sich ja bei großen Menschen zu einander wie die innere Natur eines Planeten zu seiner Geschichte – musste ihm auch das Christenthum hauptsächlich von der Seite entgegen leuchten, wie sich dasselbe bei seinem Eintreten in die Welt offenbart hatte, nämlich in seinem Kampfe. Hiernach betrachtete er beständig die Weltlage, und er äußerte manches wegen der Zukunft, das wie ein prophetisches Wort nach 10 oder 20 Jahren nur zu sehr eintraf. Am stärksten aber war dieses in Beziehung auf sein eigenes Innere. Wer die menschliche Sündhaftigkeit mit christlicher Selbsterkenntnis einsieht, kann unmöglich sich selbst den Sieg zuschreiben; er weiß es gar wohl, daß die Kraft von oben kommt. So rief Stilling überall den Beistand Gottes an, und fühlte lobpreisend die Nähe des Herrn. Wir würden ihn mit einem Augustinus vergleichen, wenn er, wie dieser, von einer lasterhaften Verdorbenheit sich erst in spätern Zeiten loszukämpfen gehabt hätte; und wenn ihm nicht das tolle, lege! Durch die Frömmigkeit, die von seinem Kindesalter an mit ihm erwachsen war, wäre erspart worden. Ich habe ihm manchmal meine Gedanken geäußert, wie jener innere Kampf, womit man in das Gottesreich eintritt, Wiedergeburt genannt, auch als stetig in der Zeit sich entwickelnd statt finden könne, so daß von Kindheit auf das innere Leben durchaus freundlich hervordränge, und wie mir eben dieses das Ziel des Christenthums und der christlichen Erziehung zu seyn schiene; und ich habe mich gefreut, hierin im Allgemeinen seine Zustimmung zu erhalten. Er war keineswegs den bekannten pietistischen Vorstellungen hold, ob er gleich in der Bekehrungsgeschichte einzelner Menschen solche Silberblicke der Entscheidung annahm. Doch ganz ist er nie in meine Ideen eingegangen; die seinige neigte sich immer mehr einem strengen, als einem freundlichen Anfang des göttlichen Lebens zu. Daß er übrigens ein abgesagter Feind von Pharisäismus, und besonders von dem Dünkel der Frommen oder vielmehr der Frömmlinge war, ist schon aus seinen Schriften, und selbst aus Verfolgungen, die er deßhalb in früheren Jahren zu erleiden hatte, bekannt. Das lag auch zu sehr in der Wahrheit seines ganzen Wesens. Niemand war mehr von jeder Art von Affection entfernt, als er. Seine Ueberzeugung, daß der Fromme es nur durch die richtigste Demuth sey, stand in seinem Innersten fest, und bewies sich, schon ohne sein Wissen, in allen seinen Aeußerungen. Gegen Niemand war er in seinen Forderungen so strenge, als gegen sich selbst; und machte ihm sein leises sittliches Gefühl auch nur einigen Vorwurf, so konnte ihn das so beunruhigen, daß er selbst körperlich dabei litt.
Solche Wahrheit und Lauterkeit war sein Wesen. Sein zuversichtliches Beten, sein unermüdetes Arbeiten, sein unerschöpfliches Wohlthun, sein geselliges Unterhalten, sein freundliches Entgegenkommen, alles war der Erguß seines Gott geweiheten Gemüths. An ihm konnte man so recht sehen, wie die Religion die ganze Natur des Menschen durchdringt und alle seine Eigenthümlichkeit aufsucht, um ihn ganz, so wie er gerade dieser Mensch ist, zu veredeln. Andere Anlagen, andere Erziehung, andere Verhältnisse: und die Frömmigkeit wo sie wahrhaft im Herzen ist, hat eine ganz andere Gestalt, und soll sie haben, als sie bei Jung=Stilling hatte. Sie war aus seinem Innersten erwachsen und in sein Wesen eingeflossen, er war mit ihr ganz Eins. So entquoll auch alles, was er darin sprach und schrieb, frei aus dem Herzen, und sein Geist gab allem sein eigene Gepräge. Naivetät, Originalität, Genialität, wie man dergleichen mit fremden Worten zu nennen pflegt, möchte man hier gerne mit deutschem Wort bezeichnen, weil es so deutsch auch in seinen religiösen Gesprächen erschien. Diese Stärke seines reichen Geistes verlieh ihm jene ungemeine Beredsamkeit, die schon in kleinen Unterhaltungen seine Gesellschaft so angenehm machte, und wirklich die Herzen zu ihm hinriß. Denn Frömmigkeit, in Menschenliebe gebildet, zieht fast unwiderstehlich an. Es ist wohl mehr als einmal der Fall gewesen, daß Leute mit einem Vorurtheil gegen Jung, ja selbst mit einem zurückgehaltenen Spott in seine Nähe kamen, und mit welchen gan andern Gefühlen verließen sie ihn! Manchem war da ein Licht aufgegangen, und mancher drückte ihm mit stiller Abbitte und redender Hochachtung die Hand. Hohe und Niedere, Menschen jeden Standes und jeder Stufe von Bildung erfreuten sich in seinem Umgang. Er war ein Kraftmann, und das Christenthum hatte in ihm gerade diejenige herrliche Gestalt gewonnen, wie sie diesem Manne entsprach.
Auch hatte Jung eine ganz eigene persönliche Zuneigung zu dem Erlöser. Ich bin überzeugt, daß in seiner Phantasie ein scharf gezeichnetes und lebendiges Bild von Christus stand, welches aus seinem innersten Wesen als sein höchstes Ideal hervorgegangen war, in welchem er die Gottheit schaute, und an den er sich im Gebete wandte; sein himmlischer Freund, mit welchem er in täglichem un in dem vertrautesten Umgange stand. Wie ein Evangelist Johannes das Bild aus der hellen Wirklichkeit in sich trug, so daß er wohl wußte, was er mit den Worten sagte: 'Und wir sahen seine Herrlichkeit als die Herrlichkeit des eingebornen Sohnes vom Vater,'

[Joh 1, 14: 'Und das Wort ward Fleisch und wohnte unter uns, und wir sahen seine Herrlichkeit, eine Herrlichkeit als des eingeborenen Sohnes vom Vater, voller Gnade und Wahrheit.' Vgl. 1. Tim 3,16;  2. Mose 33,18; Jes 60,1; 2. Petr 1,16-17.]

und wie ein Apostel Paulus ihn so im Geiste schauete, daß er sagen konnte: 'Ich lebe, doch nun nicht ich, sondern Christus lebt in mir;'

[Gal 2, 20: 'Ich lebe, doch nun nicht ich, sondern Christus lebt in mir. Denn was ich jetzt lebe im Fleisch, das lebe ich im Glauben an den Sohn Gottes, der mich geliebt hat und sich selbst für mich dahingegeben.' Vgl. Joh 17,23;  Kap 1,4]

so stand ein Nachbild in der Seeles jenes ächten Christen, der seit der letzten Hälfte des 18. Jahrhunderts in frommen Betrachtungen herangereift war, es stand in ihm nach seiner eigenthümlichen Beschaffenheit gestaltet. Der Gekreuzigte war es, auf den seine Seele immer hinschaute.
Eben diese sehr bestimmten Vorstellungen befreundeten ihn mit der Brüdergemeinde [sic; Brüdergemeine] noch besonders, außer dem allgemeinen Wesen einer tiefchristlichen Denkart; doch befreundete es ihn auch nur, und er war weder äußerlich noch innerlich dieser von ihm mit Recht hochgeachteten und geliebten Gesellschaft angehörig. Sein Christus war der Welterlöser, für welchen er jeden Augenblick in den Tod gegangen wäre, wie man für Vater, Freund und Herrn in den Tod geht; aber er stand ihm so vor, wie gerade nicht diesem oder jenem andern Christusjünger, und so kann man auch in dieser Hinsicht sagen, Christus hatte in ihm eine Gestalt gewonnen.
War jemand geeignet, Sectenstifter zu werden, so war es Jung, und manchmal haben ihm Schwärmer so was angesonnen, weil sie in seiner Geistesmacht viel für sich hofften, aber auch viel wider sich fürchteten. Aber nur zum letzten hatten sie Grund, denn er wies alle ab, sobald er sie als Schwärmer erkannte; auch vermochten sie etwa nur eine Zeit lang den arglosen Stilling zu täuschen. Oft entlarvte er sie, und dadurch zog er sich besonders in seinen jüngern Jahren Feindschaft und sogar Verfolgung zu. Eins seiner frühern Bücher: Theobald oder die Schwärmer, das für die Kirchengeschichte der zweiten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts wichtig ist, beweiset das sehr entschieden. Man muß staunen, wenn man die Kraft sieht, womit er sich auch durch jene Gefahren hindurchgekämpft hat, und daß er, so wie seinem einigen Herrn und Heiland, so auch seiner väterlichen Kirche treu verblieben, und das alles mit der freiesten Selbstbestimmung. Auch sein Werk: das Heimweh, legt dieses alles dar. Aber es ist recht zu bedauern, daß man gerade hierin den geistvollen Mann so gröblich missverstanden hat. Wollte ja sogar böser Leumuth noch in neuern Zeiten ihm Sectirerei schuld geben. Davon war er unendlich entfernt.
Mit gleichem Recht, oder vielmehr Unrecht, hätte man ihn des Indifferentismus zeihen können. Denn jeder gläubige Christ, der auch nicht seiner reformirten Confession zugheörte, war ihm ein guter Christ, und er befreundete sich mit ihm bis zur Brüderlichkeit, sobald er sich nur in der Liebe zu Jesus Christus mit ihm verbunden fühlte. Wie manche edle Seele von der römisch= und von der griechisch=katholischen [orthodoxen] Kirchenpartei stand mit ihm im religiösen Herzensverein! Es gab auch Juden, die er für Gottesfürchtige und von der Seligkeit nicht ausgeschlossen hielt, und denen er es nicht einmal ansann, das Christenthum anzunehmen. Kurz in der liberalen Gesinnung gegen andere Glaubensgenossen konnte Stilling für manche orthodoxe, und selbst für nicht wenige heterodoxe und die Toleranz im Munde führende Theologen ein Muster seyn. Manche engsinnige Menschen und Frömmlinge waren deßhalb übel genug auf ihn zu sprechen. Als ihm vor einigen Jahren das Ansinnen in einer Schrift

[d. i.: 'Wahrheit in Liebe / in Briefen über / Katholicismus und Protestantismus / an den Herrn / D. Johann Heinrich Jung genannt Stilling, / großherzoglich Badischen geheimen Hofrath, / wie auch an andere / protestantisch christliche Brüder und Freunde / von / Johann Anton Sulzer, / Doctor der Rechte, Lehrer der practischen Philosophie, / Weltgeschichte und allgemeinen Wissenschaftskunde / am großherzogl. Lyceo zu Konstanz. / * * * / Mit Genehmigung beider Censuren. / * * * / - / Konstanz und Freiburg im Breisgau. / Auf Kosten des Verfassers; in Commission bey den / Buchhändlern Xaver Forster in Konstanz, / und Alois Wagner in Freiburg / 1810.']

gemacht wurde, katholisch zu werden, so regte das seinen ganzen Unwillen auf, den er in einer Gegenschrift aussprach

[d. i.: 'Antwort / durch / Wahrheit in Liebe / auf die / an mich gerichteten Briefe / des Herrn / Professor Sulzers in Konstanz / über / Katholicismus und Protestantismus. / - / Von / Dr. Johann Heinrich Jung / genannt Stilling, / Grosherzoglich Badischer Geheimer Hofrath. / - / Nürnberg, / im Verlag der Raw'schen Buchhandlung. / 1811.']

Er stand zu tief im Wesen des Christenthums, als daß er auf die äußere Form mehr Wert hätte legen sollen, als sie verdient. Ist doch die freundliche Beurtheilung anderer Religionsmeinungen gewöhnlich das Zeichen ächter Religiosität.
Nur gegen Meinungen, die den wesentlichen Lehren des Christenthums seiner Ansicht nach droheten, war er unerbittlich strenge, wenn sie öffentlich auftraten. Er entwarf sich auch da manchmal ein allzugrelles Bild von einem Gegner, so daß er ungerecht werden konnte. Mehrmals hielt ich es daher für Pflicht, ihm dieses zu bemerken, das stimmte ihn auch wohl zu milderen Gesinnungen; aber ich musste auch dann die seinige beobachten, wenn wir verschiedener Meinung blieben, denn die seinige hing mit dem heiligen Ernst zusammen, womit er für die Wahrheit stritt, wie sie einmal bei ihm feststand; und ich kannte auch seine Selbstverläugnung, womit er seine eigene Meinung aufgab, sobald er nur die Wahrheit auf der Seite des Andern sah. Gemeiniglich wirkten erst späterhin dergleichen Erinnerungen, nachdem er alles in seinem fest zusammenhängenden System damit verglichen hatte. Uebrigens war er jederzeit bereit, auch dem bittersten Gegner als Mensch zu helfen, wo er nur konnte. In der persönlichen Unterhaltung wurde er leicht der Freund dessen, den er aus der Ferne ungünstig angesehen hatte; alles dieses aus demselben Herzensgrunde. Von dem Religionslehrer verlangte er mit unerbittlicher Strenge, daß er das Evangelium verkündige, und daß er selbst daran glaube; das erstere, weil er dazu berufen, das zweite, weil er sonst ein Heuchler sey.
Jung=Stilling war keineswegs in Allem streng orthodox, auch konnte er es recht gut sehen, daß Andere in kirchlichen Lehren verschieden dachten, wenn sie nur evangelisch waren, und es mit dem Reiche Christi redlich meinten. Viele Geistliche gehörten zu seinen Freunden; wie war es aber anders möglich, als daß nicht jeder mit ihm, der so individuelle Ansichten hatte, übereinstimmte? Dennoch hielt er auch auf solche viel, und hörte wohl ihre Predigten gerne. Mein Verhältniß mit ihm war von Anfang an von dieser Art. Ich war erst 23 Jahre alt, da ich ihn kennen lernte, war noch einigermaßen in der Wolfischen, mehr noch in der Kantischen Philosophie begriffen, und gab ihm eben nicht gerne nach. Wir sprachen uns drei gegen einander aus, und gerade so schenkte er mir seine Freundschaft; damals waren die Verhältnisse so, daß uns beiden noch kein Gedanke unserer nachmaligen Familienverbindung kommen konnte. Auch ich hatte Vorurtheile gegen ihn, und habe sie nicht so leichter Hand aufgegeben; und er wußte, daß wir in manchen Lehrmeinungen nicht übereinkommen würden; dem ungeachtet wuchs unsere Freundschaft sowohl von Seiten des Geistes, als des Herzens; er wollte mich keineswegs in seine Ansichten hinüberziehen, nachdem er sich nur so weit überzeugt hatte, daß mir das biblisch=evangelische Christenthum am Herzen liege: und ich fand in ihm von den Jahren seiner blühendsten Wirksamkeit an bis in sein hohes Alter immer mehr den hochherzigen Mann, die Geistesgröße und das Christengemüth, das mir eine herrliche Welt aufgeschlossen hat. Ich danke Gott für diese Lebenswohlthat. Denn was es heißt, in ein solches Gemüth einzuschauen, das haben viele, die in Bekanntschaft mit ihm kamen, wohl erfahren. Was mir schon in früher Jugend als das Wesen ächter Frömmigkeit in geachteten Personen, in ihrem Leben selbst erschienen war, und was mir Schriften und Studien ausbilden halfen, fand ich in diesem Manne so klar vor mir stehen, daß mein Ideal unendlich dadurch gewann, und selbst seine menschlichen Schwächen mir immer augenblicklich gegen jene wahre und hohe Kraft schwanden. Darum folgt ihm mein Dank in die Ewigkeit. Und so ist es gewiß bei nicht wenigen seiner Freunde der Fall. Wenn man den Edlen wirklich kannte, so ärgerte man sich daher doch nur im Anfang über die beschränkten und feindseligen Beurtheilungen, die in öffentlichen Blättern über ihne rgingen; bald aber ärgerte man sich nicht mehr, sondern bedauerte nur die Leute, die über einen Mann urtheilten, dessen Höhe sie freilich nicht aus sich selbst zu würdigen vermochten.
Er hatte allerdings auch seine Schwächen, denn er war Mensch, und auch bei der Größe gibt es Schwächen. Dem Sohne ziemt es nicht, den Vater zu tadeln, wäre ich aber ein Fremder, so würde ich vielleicht das, was mir an ihm tadelnswerth erschienen, aufstellen, und ich bin überzeugt, daß über dieses alles hin seine Trefflichkeit nur heller hervorglänzen werde. Doch wird es mir erlaubt seyn, einiges anzuführen, um zu zeigen, wie leicht solcher Tadel übertrieben sey. Er ließ sich von den Menschen einnehmen, sobald sie ihm nur eine religiöse Seite darboten. So oft er sich nun auch so an Menschen getäuscht sah, und dieses höchst schmerzlich empfand, so wollter er doch einmal schlechterdings nicht misstrauisch gegen Menschen werden, und lieber hätte er sich, wie unser Erlöser, einen Judaskuß gefallen lassen, als das Vertrauen nicht etwa zu einem Menschen, sondern zu dem Guten im Menschen aufgeben. Nie sah ich ihn in schwererem Kampfe, als wenn jemand ihn endlich selbst nöthigte, dieses Vertrauen ihm zu entziehen. 'Hütet Euch vor dem Richten!' war gewöhnlich das Wort, womit er Warnungen der Art seinen Freunden beantwortete. Gestehen muß ich dabei, daß er wirklich manchmal Recht behielt, und daß er auch mir öfters eine gute Seite an jemand zeigte, die ich im Unwillen übersehen hatte. Der Weltmensch wird sich freilich nicht so leicht täuschen lassen, denn er kennt die Vielfachheit und Durchtriebenheit der Menschen recht gut. Wer aber in edler Einfalt in den Menschen gerne Gottes Kinder sieht, müsste über alle Eitelkeit erhaben seyn, wenn er jenen hohen Zug der Religion in ihrer höchsten Vollkommenheit besitzen wollte, die Menschen zu durchschauen, ohne den Glauben an ihr Besseres zu verlieren; er müsste dem Heiligen des Evangeliums ganz nahe stehen. Fand er endlich unwiderlegbar jemand schlechter, als er es ihm zugetraut, und konnte seine unermüdete Lehrhaftigkeit nichts bei ihm bewirken, so gehörte derselbe freilich nicht mehr in den Kreis seiner Freunde, und seine Liebe trauerte um ihn mehr, als wenn er gestorben wäre.
Stillings häusliches Leben ist aus seinen eigenen Schilderungen bekannt; aber nur die Hausfreunde sahen es so, wie es ganz verdiente bekann zu seyn. Denn auch in seinem Hause waltete der Geist diees gottseligen, aber kämpfenden Hausvaters, und nicht blos sein Arbeitszimmer war einem stillen Tempel zu vergleichen, sondern alle Personen, die zu seinem Hauswesen gehörten, fühlten sich durch eine Liebe höherer Art vereinigt. Da war nichts weniger als Kopfhängerei, durchaus kein frömmelndes Wesen; vielmehr sah der Vater gerne alles munter um sich her, und war, trotz seiner Anwandlungen zur Schwermuth, doch leicht zum Frohsinne gestimmt, ja er wußte oft selbst zur Freude zu stimmen. So war es an seinem Tische, so war es in den häufigen Abendgesellschaften, die sich bei ihm einfanden, und wo unter alt und jung die schönste gesellige Freude herrschte; noch in seinem hohen Alter war er so seelenvergnügt, wenn er den tanzenden Reihen seiner Enkel und anderer jungen Leute zusah, wie er es war, wenn er die Seinigen musiciren hörte, oder selbst am Klavier einen christlichen Choral mit ihnen anstimmte. Ein liebevoller Geist war es, der jeden in diesem Hause anwehte, wer nur eintrat, nd welcher die, welche darin lebten, fesselte, welcher daher auch auf das Gesinde überging. Man hörte da nie ein unfreundliches Wort, und die Mägde dienten mit einer Liebe und Treue, als wären sie Töchter des Hauses; man sah recht, wie es nur eines christlichen Hauswesens bedarf, um den vielen Klagen über das Gesinde zu begegnen, und dasselbe nicht etwa zu überbilden, sondern ins einem Dienste zu veredeln.
Derselbe christliche Sinn war es auch, welcher unsern Vater in der Wahl seiner Gattinnen so glücklich geleitet hatte, daß er mit jeder in einer wahrhaft christlichen Ehe lebte. Seine erste Gattin, die fromme Christine, welche ein frühes Opfer ihrer häuslichen Thätigkeiten in jener bedrängten Lage geworden war, nannte ihn nur 'ihren Engel und ihr Alles.' Seine zweite Gattin, die geistreiche Selma, welche ihm eine neue Welt in ihrem herrlichen Gemüth eröffnete, und welche, während sie seine ökonomischen Umstände verbessern konnte, seinen religiösen Sinn gleichsam in die Welt einführte, und sein ganzes Leben bereicherte und verschönerte, verehrte in ihm zugleich den Freund für den Himmel. Und endlich seine Lebens= und Sterbensgefährtin Elise setzte währe4nd ihrer längern Ehe Stillings häuslichem Leben die Krone auf. Wie viel verdankte sie ihm, die fromme Dulderin! Wie viel er ihr! Beide waren ganz in ihrem Christenthum Eins geworden, die Seelenstärke ihres Gatten war nun auch die ihrige; durch ihr unendlich liebevolles Wesen leuchtete sie als die milde Sonne in dem Hause; sie übernahm den Theil der Erziehung der Kinder, wozu er sich in seiner Natur und seinem Bekenntniß nach unfähig fühlte, und die Kinder der drei Ehen waren um die Mutter her, als wären sie Einer zugehörig, das Wort Stiefkind hatte für keines derselben einen Sinn. Und so könnten wir Kinder sämmtlich vieles aus überfließendem Herzen sagen, das in aller Beziehung zeigen würde, was es heißt, ein christliches Ehepaar. Es ist eine tiefe Wahrheit in den Worten: der Mann wird durch das Weib, und das Weib durch den Mann geheiligt [vgl. 1 Kor 7, 14]. Aber Kraft und Stärkung in dem Christenthume soll von dem Hausvater auf solche Art ausgehen, wie es hier der Fall war.
Wir müssen hierbei noch eines Punktes erwähnen, worin wohl manchmal unserm Vater laute und stille Vorwürfe gemacht wurden, das ist sein Grundsatz, womit er seine äußerlichen Vermögensumstände so ganz der Vorsehung überließ. Denn, sagte man, das ist Schwärmerei! oder auch: das ist ein Unrecht gegen die Seinigen! Wir würden jedes Wort für verloren halten, wenn wir solchen moralisirenden Buchstäblern antworten wollten, die sich mit sogenannten allgemeinen Maximen abmühen, weil sie nicht zu der Idee, welche in dem Lebensganzen eines Menschen ausgesprochen ist, hinaufzusteigen im Stande sind. Nur den Freunden, welche hierin mit unserm Vater nicht ganz im Klaren sind, wollen wir es sagen, daß er sehr lebendig das Bewußtseyn von seiner Lebensbestimmung in sich trug, damit sie auch ihm das Urtheil zukommen lassen, was überall großen Seelen gebührt. Denn solche haben ihren eigenen Gang, und wo ist es je auch etwa irgend einem großen Geschichtschreiber eingefallen, solche Menschen darum Schwärmer zu nennen, weil sie die geheimnißvolle Zusage der äußern Erfolge zu ihrem innern Berufe in tiefster Ueberzeugung in sich trugen? Läßt man doch selbst einem Julius Cäsar in seinem Kahne Gerechtigkeit wiederfahren!

Wohl Anklang an Plutarch: Caesar, 38, wo es heißt: Du trägst den Caesar und sein Glück; Caesarem vehis eiusque fortunam.

Der glaubige Christ Jung=Stilling wußte wohl, warum er an seine Gebetserhörungen glaubte und nur er verstand sich hierin selbst, und die Bedingungen, unter welchen er daran glauben durfte. Auch lässt sich seine Lage mit der eines Geistlichen vergleichen, welcher von allen Seiten zur Zeit der Noth angegangen wird, um zu helfen, und der, christlich wie er ist, lieber selbst darbt, als Herz und Hand zu verschließen.
Geldgedanken lagen einem Stilling am entferntesten unter allen, dieses Gift des geistigen Lebens, das in die schönsten Ideen zerstörend einfließt. Wer das geheime Märtyrerthum kennt, worin diejenigen leiden, welche des Geistes Geschäfte treiben, und durch Nahrungssorgen unterbrochen werden,, mag es einem Stilling hoch anrechnen, daß er sich mit seiner Christenkraft über das Plus und Minus und die leidigen Zahlbegriffe erhob, und ungestört in seinem größern Berufe fortwirkte. Darum verließ ihn auch die Vorsehung nicht. Sie erweckte ihm Freunde, die ebenfalls groß dachten, und sich in reicherem oder höherem Stande befanden, die es ihm dann möglich machten, seinem wahren Berufe ganz und freudig zu leben, und der vielfache Wohlthäter von Vielen zu seyn. Nahm er von hundert Augenkuren nichts, so gab es unter den dankbaren Seelen, welchen er des Leibes Auge wieder glücklich geöffnet, auch manche, die mit irdischen Gütern gesegnet waren, und die durch ihre freiwilligen Geschenke ihn in den Stand setzten, Andern wieder auf mehrfache Weise zu helfen. Dank Euch, Ihr Edlen, nah und fern, die Ihr entweder noch hienieden, oder schon droben die Früchte Euer Werke genießet!
Stillings Ehegattinnen stimmten auch ganz in seine Wohlthätigkeit ein, und so war es nichts Geringes für seine letztere, daß sich bei seinen vermehrten Geschäften die Hülfsbedürftigen oft an sie zunächst wendeten. Ihr Herz kannte keine Gränzen im Wohlthun, aber strenge gebietend setzten sich dann die häuslichen Umstände entgegen. Hierzu kam nun ihre natürliche Sorglichkeit, und das machte dann ihr sowohl als ihrem Manne nicht wenig Noth, bis sie es endlich durch sein ernstes Zureden und ihre liebevolle Achtung gegen ihn, zu einer frommen Ergebung selbst so weit brachte, daß ein Blick auf ihre Christenstärke auch ihn wiederum stärkte. So geschah es, daß sie einer Klippe ent[g]ing, woran sonst gerade solche Frauen von zärterem Sinne leicht scheitern, indem sie in Schwersinn versinken, oder ein mürrisches Wesen annehmen, oder, welches oft noch schlimmer wirkt, durch stumme Klagen sich und die Ihrigen nur quälen. Man bedenke, wenn ein Stilling eine solche Gattin gehabt hätte! Wenigstens wäre er vor der Zeit gestorben. Aber er hatte sich auch die treue Gehülfin dadurch geistig erworben, daß er nicht etwa ihre Schwächen allzu nachgiebig ertrug, sondern bei ihrem mehr als 20jährigen Körperleiden sie mit Gründen des Christenthums kräftigte, ihre Selbestverläugnung unterstützte, und so zu veredeln wußte, daß sie als eine der edelsten Frauen anerkannt worden. Die Seelenfreundschaft dieses Ehepaars war eine Vereinigung für die Ewigkeit, und sie konnte sich für die Erde nicht schöner vollenden, als daß sie bei der nur anscheinenden Trennung Hand in Hand in jene Heimath hinübergingen, wie er selbst 27 Jahre vorher ahndungsvoll als der fromme Sänger an seinem Trauungstag gesungen hatte. Nie werde ich auch vergessen, wie sich beide – es war ein Vierteljahr vor ihrem Tode – über diesen gemeinsamen Uebergang in die Ewigkeit unterhielten. Das war eine Heiterkeit, womit sie darüber sprachen, wie sie wohl sonst von einer vorgenommenen Reise redeten. Wir Kinder konnten dabei kaum traurig werden; die lieben Eltern freuten sich auf die Reise, denn sie wussten, daß der himmlische Vater sie abrufe.
Bei diesem christlichen Hausstande konnte es nicht am Segen fehlen. Alles war in einem einfachen, aber wohlgeordneten Wohlstand, und mitten unter den Lebenssorgen wussten unsere Eltern daß alles das sehr schicklich bei ihrer ausgebreiteten Bekanntschaft und Gastfreundschaft zu beobachten, was diese erforderte. Die Kinder erhielten alles, was zur guten Erziehung gehört; sie sind nun fast alle versorgt, und die Eltern sind niemandem etwas schuldig geblieben, was bezahlbar ist. Dank ihrer treuen Fürsorge! Ja wir sind überzeugt, daß es kein Unrecht der Eltern ist, wenn sie den Kindern kein Geld und Gut hinterlassen, sondern vielmehr oft ein großes Unrecht, wenn sie das für sie sammeln, was den Götzendienst der Welt begünstigt. Möge der Segen dieser Eltern so auf ihren Kindern ruhen, daß keines ihrer unwürdig sey! 'sSind wir doch so reich,' schreibt die zweite Tochter an die älteste, 'solche frommen Eltern und Vorfahren gehabt zu haben, wer möchte mit anderm Reichthum tauschen!' – Und die älteste schrieb dieser: 'Wo sind nun, wenn ich zu Euch komme, die Edlen, denen wir alles zu danken haben? wo der Engelsvater, bei dessen Anblick man vor Ehrfurcht niedersinken mochte, in dessen Nähe man so tief das Glück fühlte, sein Kind zu seyn? Ach, und die reine, liebe Mutter mit ihrer Sorge und Zärtlichkeit! Die leidende Engelsseele! wo soll ich sie suchen?'
Daß in den letztern Bänden der Stillingsgeschichte das Persönliche, welches seine Familie betrifft, weggeblieben wäre, möchten wir wohl wünschen; auch möchte sonst manches auf einem fremden Standpunkte zu kleinlich erscheinen. Man bedenke aber, daß dem Verfasser nichts zu klein war, was ihm zum Bekenntniß seines Glaubens an die allergenaueste Vorsehung diente, weil er wohl wußte, wie in ihrem Gange überhaupt nichts klein sey. Und wer mag jene Kindlichkeit und Offenheit tadeln, welche nur in die spätern Verhältnisse nicht mehr passen wollte, aber desto mehr den klassischen Werth der ersten Theile jenes Buches erhöht! Es war des großen Dichters unserer Nation [Goethe] nicht unwerth, daß er das Werk zuerst zum Druck befördert hat. Auch wir Kinder Stillings danken Göthe dafür, wie wir überhaupt sein edles Herz in allem erkennen, was er schon als akademischer Freund unserem Vater gewesen, wofür unser Dankgefühl nie ersterben wird. In ihrer Richtung waren diese beiden Geister sehr verschieden, aber sie blieben auch im Alter, und gewissermaßen im Stillen, Freunde. Göthe hat sich in dem Buche, das aus seinem Leben erzählt, auf eine Art über Jung erklärt, welche diesen ungemein gefreut hat; und gerührt hat er ihn durch den Besuch, welchen er dem alten Freund noch im Jahr 1815 in Karlsruhe abstattete. Leider musste durch eine unglückliche Fügung kleiner äußerer Umstände unser Vater gerade an diesem Tag wegreisen, er sprach nach der langen Reihe von Jahren den Jugendfreund kaum eine halbe Stunde. Es war dem Vater und den Seinigen sehr schmerzlich, daß ein längeres Zusammenseyn, daß er selbst so sehr gewünscht hatte, nun gänzlich vereitelt war. Nie haben wir ihn anders, als mit gerührtem Herzen und großer Hochachtung von diesem Freunde sprechen hören. Ueberhaupt verlor sein treues Gemüth keinen bewährten Freund auch aus der frühen Zeit.
Jung=Stilling hatte das Glück, bei einer so ausgebreiteten Bekanntschaft, wie sie nicht leicht ein Gelehrter findet, auch viele vertraute Freunde zu besitzen, mit welchen er im mündlichen und schriftlichen Umgang lebte. Schon seine gelehrte Laufbahn, wo er in Zweigen der Kameralistik als Schöpfer von immer noch geschätzten Systemen auftrat, und überhaupt sein genialer Geist hatte ihm viel Ansehen, manche persönliche Verbindung und eine große Korrespondenz erworben. Wie mancher ausgezeichnete Staatsmann war sein Zuhörer [z. B. Ludwig Freiherr von Vincke, 1774-1844], und schätzt immer noch diesen Lehrer? Wir könnten auch der Hochachtung erwähnen, welche ihm ein Kant in einem Briefe bewies, worin ihm derselbe über einige Fragen, die Anwendung seiner philosophischen Grundsätze theils auf kameralistische Gegenstände, theils auf das Christenthum betreffend, ausführlich antwortet, und es dieser große Philosoph mit voller Zustimmung billigt, daß Jung seine Beruhigung im Evangelium suche. Doch hier ist nicht der Ort zu allem diesem. Wir wollen nur hierbei denjenigen dieser Freunde, die etwa noch leben, unsern Dank laut versichern, daß sie auch in solchen Verhältnissen unserm Vater Freundlichkeit bewiesen haben.
Vornehmlich aber war es seine religiöse Schriftstellerei und sein ausgezeichneter Christusglaube, was ihm viele Gemüthsfreunde nah und fern erwarb. In fast allen europäischen Ländern, auf dem Lande und in den Hauptstädten, in beiden Indien, in dem Hottentottenlande, im weiten Asien und auf Otaheiti [d. i. Tahiti] wurde seiner mit Liebe gedacht, wurde für ihn gebetet; - o, es war etwas Großartiges, zu hören, wie bei ihm oft aus den entlegensten Gegenden der Erde zugleich Nachrichten vom Reiche Gottes einliefen, wie das Christenthum eine so schöne Gemeinschaft der Geister unter den verschiedensten Völkern unterhielt, wie er von seiner Seite alles dazu beizutragen suchte, und sich in diesem so seltenen  und großen Wirkungskreise nur mit Demuth glücklich fühlte! Ich bin überzeugt, daß er mit einem apostolischen Geiste aller dieser christlichen Freunde, und so besonders auch der christlichen Missionsgeschäfte in seinem täglichen Gebet gedacht hat.
Wer ihm auch in geheimen Angelegenheiten sein Vertrauen geschenkt hat, wird es, während Jung=Stilling lebte, nicht bereut haben. Niemand braucht sich auch nach dieses Freundes Tode zu besorgen, daß seine Geheimnisse unbewahrt blieben. Keins seiner Kinder und keiner seiner Vertrauten hat etwas von dem erfahren, was ihm je ein Freund als ein Heiligthum in seine Seele gelegt. Auch hat er selbst alles Geheime für sich nur in Chiffern geschrieben, die nur er verstand, und hat alle seine geheimen Papiere dem ältesten Sohne, dem damaligen Hofgerichtsrat Jung in Rastadt, jetzigenOberhofgerichtsrath zu Mannheim, übergegen, dessen Treue anerkannt ist, und der alles heilig verwahrt, bis es etwa von denen, welchen es eignet, abgefordert wird. Wir wissen jedes Vertrauen, das unserm seligen Vater geschenkt worden, noch nach seinem Tode zu ehren.
Auch manche Große der Erde gewährten ihm das Glück einer nähern Bekanntschaft, worin er das schauen konnte, was er in jedm Menschen so gerne sah, und was er mit doppelter Freude in ihnen erblickte. Denn er ehrte in ihnen ihre göttliche Bestimmung, und auch das war ihm Religion. Sie schätzten seine Gradheit, Offenheit und Bescheidenheit, erfreuten sich an seine reichen Geiste, und stärkten sich an seiner Gottseligkeit. Er suchte nicht die Großen, sie suchten ihn, und das machte ihnen Ehre, denn er sprach auch ihnen seine Ueberzeugung freimüthig aus, und erlaubte nie irgend eine Schmeichelei; nur vergaß er nie seine Ehrfurcht. Ueberhaupt hatte er in diesen Verbindungen niemals sich vor Augen, und machte zu keinem äußern Zwecke davon Gebrauch, als etwa wo es anging, für irgend eine wichtige Wohlthat. Daß er auch den Seinigen hierdurch nicht Vortheile zu verschaffen suchte, war ganz seiner Würde und unsern Wünschen gemäß.
Wo er einmal Gnade von einem Großen empfangen hatte, blieb es ihm stets ins Herz geschrieben. SO dachte er bis an sein Ende mit Dankgefühl an seinen vorigen Landesherrn, den Kurfürsten Wilhelm den IX. von Hessen Kön[igliche]. H[oheit]. Er hatte auch die Huld Sr. Majestät des russischen Kaisers Alexander I. auf eine Art erfahren, daß sein ganzes Herz diesem hohen Menschenfreund mit Segenswünschen ergeben war. – Doch es ziemt uns nicht, die Gnadenbezeugungen aller der gütigen Erhabenen zu nennen, so gerne wir auch unser Dankgefühl laut aussprechen möchten.
Aber übergehen dürfen wir nicht ein Verhältniß, welches zunächst in Stillings religiöses Leben gehört. Das war die Freundschaft zwischen ihm und dem verewigten Großherzog von Baden, Karl Friedrich, welche schon seit langen Jahren bestand. Beide waren Freunde und Christen seltner Art; wer sie beide sah, glaubte in ihnen eine apostolische Würde zu erblicken. Jung=Stilling ist bekannt, aber auch Karl Friedrich, und wer je das Glück hatte, in dieses Fürsten= und Christengemüth zu schauen, besitzt eine bleibende Seelenfreude. Sie waren beide durch ihr innerstes Wesen zu einander hingezogen, und so war unter ihnen eine Freundschaft der seltensten Art erwachsen. Auch blieb das Heiligthum derselben bei der großen äußern Bescheidenheit durch den gegenseitigen Edelsinn rein bewahrt, und wurde nicht durch die mindeste fremdartige Einmischung entweiht. Oft dachte Jung=Stilling im Kreise seiner Familie an den hochgefeierten Herrn mit Thränen, und heilig würde schon darum den Seinigen das Andenken dieses Fürsten seyn. Auch die ausgezeichnete Gnade, welche ihm Höchstdesselben erhabener Nachfolger, der Großherzog Karl erwiesen, erfüllte das Herz unsers Vaters mit der gerührtesten Dankbarkeit bis über das Grab. Und der Dank gegen dieses hohe und liebe Fürstenhaus ist für Jung=Stillings Kinder und Kindeskinder ein glückliches Erbtheil.
Wir möchten allen Freunden Stillings nach und ferne sagen, daß wir sein Andenken dadurch ehren, wenn wir im Herzen behalten, was sie ihm gewesen. Wir glauben seine Stimme zu vernehmen, wie er ihnen Segen aus dem Lande der Verklärung zuruft.