Jung-Stilling: 

"Vorrede. 

Berichtigung der gewöhnlichen Begriffe von der Mystik." 

 
Christian Stahlschmidts "Pilgerreise" erschien 1799. Jung-Stilling versah sie mit einer Einleitung, denn diese Lebensgeschichte kam seiner Vorstellung von göttlicher Gnadenführung und Vorsehung nahe.
  
Jung-Stilling entwickelt hier seine Vorstellung von der richtigen Mystik, damit der Leser die dann folgende Lebensgeschichte Stahlschmidts entsprechend würdigen kann. (Zu Stahlschmidt siehe man hier.) 
 
Hier folgt der Text dieser Einleitung. (Ohne die Auszeichnungen des Druckes.)
 
 
Die 
Pilgerreise 
zu Wasser und zu Lande, 
oder 
Denkwürdigkeiten 
der göttlichen Gnadenführung und Fürsehung 
in dem Leben eines Christen, der solche, auch besonders 
in seinen Reisen durch alle vier Haupttheile der Erde 
reichlich an sich erfahren hat. 
- [eL] 
Von ihm selbst beschrieben 
in Briefen 
an einen seiner Christlichen Mitbrüder, 
in den Jahren 1797. und 1798. 
- [eL] 
Nürnberg, 
im Verlag der Raw’schen Buchhandlung, 
und in Commission 
bei Wittib, Hutmacher zu Mühlheim bei Köln am 
Rhein, 1799. 
 
 
 
 
== 
Vorrede. 
Berichtigung der gewöhnlichen Begriffe von 
der Mystik. 
Die merkwürdige und lehrreiche Lebensgeschichte, welche in foldenden Blättern enthalten ist, ist eine getreue Erzählung der Schicksale und des Läuterungs= Prüfungs= und Heiligungsweges eines noch lebenden Mannes; dessen wahre Demuth und Bescheidenheit mir verbietet, hier etwas zu seinem Lob zu sagen; welches aber auch nicht nöthig ist. da das Werck selbst seinen Meister lobt, oder vielmehr dessen Ruhm verkündigt, der der grose Lenker der menschlichen Begebenheiten, Leiden und Freuden ist. 
Ueberhaupt würde dies Buch gar keiner Vorrede bedürfen, wenn der Verfasser nicht in einer Denkungsart geschrieben hätte, die nicht blos vom herrschenden Geschmack der heutigen Lesewelt – auf deren Beyfall aber hier auch gar nicht gerechnet wird – himmelweit verschieden ist, sondern die auch selbst unter denen die sich freymüthig zu Christo bekennen, ja so gar unter seinen wahren Verehrern noch vielen Widerspruch findet; mit einem Wort: Da er ein 
          a 2          wahrer 
IV          Vorrede. 
wahrer – nicht falscher – sonder redlicher, von Herzen demüthiger Mystiker ist, diese Classe Menschen und Christen aber, von der Welt für Erzschwärmer, von der einen Parthey der Gläubigen für Werckheilige, von der andern für Pharisäer und Heuchler, und von der dritten für Verläugner, oder – gelinder – für Miskenner des Verdienstes Jesu gehalten wird, welches alles aber grundfalsch, und eine aus Unkunde und Misverstand entstandene sehr nachtheilige Verurtheilung der wahren Mystick ist, so habe ichs für nothwendig gehalten, dem Gott und Christum liebenden Leser die Vorurtheile aus dem Wege zu räumen, die er allenfalls gegen die wahre Mystick haben möchte, und die ihn hindern würden, den Werth dieser Geschichte richtig zu beurtheilen, und noch vielmehr. den höchst möglichen und höchst wichtigen, nicht zu verkennenden Nutzen daraus zu ziehen, der bey unpartheyischer Vorurtheilsfreyer und ernstlich seiner Seelen Heil suchender Gemüthsstimmung unstreitig daraus gezogen werden kann. Es wird also hier auf zwey Hauptstücke ankommen, nämlich daß ich 
1) zeige, woher es komme, daß die wahre Mystick so verschrien und so verdächtig geworden ist? und 
2) dann den wahrhaften und richtigen Begriff derselben völlig entwickelt. deutlich, ausführlich, und vollständig darstelle. 
          Die 
Von der Mystick.          V 
Die erste Hauptursache des Verdachts gegen die wahre Mystick liegt unstreitig in der Dunkelheit und Unbestimmtheit des Styls und der Kunstwörter, deren sich die mystischen Schriftsteller von jeher bedient haben: Die Ausdrücke Durchbruch, Vernichtigung, nackter Glaube, dunkler Glaube, mystischer Tod, Einkehr in den Seelengrund u. d. g. sind von der Art, daß man sich leicht Dinge dabey denken kann, die ganz verschieden von denen sind, die sich der Mysticker dabey denkt, und die man sich dabey vorstellen muß, wenn man ihn richtig verstehen will. Dies alles rührt aber daher, weil die Mysticker von jeher zur catholischen Kirche gehörten, folglich die Kirchenväter fleisiger lasen als die Bibel, sich daher auch mehr an ihre Kunstwörter gewöhnten, und sich ihre platonisch=gnostische Ideen, in so fern sie zum Weg der Heiligung paßten, geläufig machten. 
An diese knüpfte sich noch eine andere Ursache: die scholastische Philosophie war nicht von der Art, daß sie deutliche Begriffe über die Natur, Kräfte und Würkungen der menschlichen Seele, in den Köpfen der Studierenden entwickeln konnte; daher kam es dann, daß auch gelehrte Männer, Empfindungen und Vorstellungen, die öfters durch ihre Einbildungskraft entstunden, als Würkungen des heiligen Geistes ansahen, und sich dadurch selbst, und durch ihre 
          a 3          münd= 
VI          Vorrede. 
mündliche und schriftliche Vorträge auch andere täuschten. 
Was aber vorzüglich die Mystick in einen übeln Ruf brachte, das war ihre Empfehlung des ehelosen Lebens, der Einsamkeit und der Armuth; - drey Stücke, für welchem der blos sinnliche Mensch zurückschaudert, und alle Gründe hervorsucht, um zu beweisen, daß sie nicht zum wahren Christenthum erforderlich sind; es ist schlechterdings nöthig, daß ich hier streng prüfe, was Wahrheit ist? – denn es giebt noch immer sehr fromme und redliche denkende Christen, die jene drey Stücke, wenigstens als Hülfsmittel zur Heiligung ansehen. Christus und seine Apostel haben im neuen Testament hin und wieder das ehelose Leben allerdings dem Ehestand vorgezogen, dagegen aber auch eben so gewiß diesen leztern Stand gebilligt, geheiligt, und als eine unzweifelbare göttliche Anstalt und Ordnung empfolen. 
Die gesunde Vernunft lehr ebenfalls, daß das sittliche Verderben, die sogenannte Erbsünde nicht im Daseyn des Fortpflanzungstriebes, sondern nur im überwiegenden Hang zu dessen Misbrauch liege, welche aber durch das ehelose Leben mehr gefördert als gehindert wird; und über das alles ist je die Vermehrung und Fortpflanzung des Menschengeschlechts ein göttliches, der ganzen Natur, und besonders auch den Menschen gegebenes und anerschaffenes Ge= 
          setz, 
Von der Mystick.          VII 
setz, 1 Mos. I, V. 28. welchem jeder gehorchen muß, der nicht durch Umstände, die ihn den Ehestand zum Unglück machen würden, daran gehindert wird. 
Wie lässt sich aber nun jener Vorzug, den Christus und sein Apostel dem ehelosen Leben einräumen, mit diesem göttlichen Gesetz vereinigen? – Sehr leicht! – wie sich nun zeigen wird: Daß sich der Geist Gottes in seinem Wort nicht widersprechen könne, bedarf keines Beweises; so bald also ein solcher Widerspruch bemerkt wird, so ist er blos scheinbar, und die Pflicht des Ausglegers geht dann dahin, beyde Sätze nach den übrigen Aussprüchen der heil Schrift zu prüfen, so wird sich allemal der wahre Sinn leicht ausfindig machen lassen: so erklärt sich Christus durch die Worte: - Wehe den Schwangern und Säugenden zu der Zeit [Mt 24, 19] – warum Er das ehelose Leben für zuträglicher halte: denn Er sahe den schrecklichen Jammer, der in kurzem über Jerusalem und das jüdische Land kommen sollte, mit Gewisheit voraus; es war daher zu seiner Zeit weit rathsamer nicht zu heurathen, um keine Familie in die Welt zu setzen, die bald unverschuldeter Weise die grösten aller irrdischen Leiden würde zu erdulten haben, und was können solche arme unschuldige Kinder für die Sünden ihrer Eltern? – In eben dem Sinn spricht auch der Heiland von den Menschen vor der Sündfluth: Sie hätten grefreyt und 
          a 4          sich  
VIII          Vorrede. 
sich freyen lassen, bis das schröckliche Gericht eingebrochen sey. – Ess kann das anders bedeuten, als, sie liefen sich durch den Noah nicht warnen, sie glaubten gar nicht, daß ein allgemeines Weltgericht so nahe sey, sonst hätten sie gewis nicht geheurathet, um nicht zu verursachen, daß so viele unschuldige Kinder in der Sündfluth ertränkt würden. Eben so verhält sichs nun auch mit allen Stellen in den Schriften und Briefen der Apostel: entweder beziehen sie sich auf die Männer, die sich der Ausbreitung der christlichen Religion widmeten, die also, weil sie immer weit und breit umher reisen musten, und vielen Leiden und Beschwerlichkeiten ausgesetzt waren, nicht wohl eine Familie versorgen konnten; oder sie hatten auch wohl die damaligen Zeiten überhaupt im Auge, wo die christlichen Eheleute nie für den Verlust ihrer Güter, ihres Vaterlands, und so gar ihres Lebens sicher waren, und es daher immer besser war, lieber keine Kinder zu zeugen, als sie in eine so gefahrvolle Welt zu setzen. 
So müssen alle solche Stellen erklärt werden, die Bezug auf das ehelose Leben haben, wenn nicht das göttliche Gesetz des heiligen Ehestandes dadurch herabgewürdigt werden soll. Auch wir leben jezt in einer Zeit, wo mancher diese Ausnahme von der Regel auch auf sich anwenden kann und darf: denn es hat das Ansehen, als ob unsre Kinder auch schwere Kämpfe durch= 
zu= 
Von der Mystick.          IX 
zukämpfen haben würden; doch in diesem Fall muß sich jeder genau im Licht der Wahrheit prüfen, damit sich keine Eigenheit, die sich manchmal in den Glanz der Heiligkeit versteckt, unvermerkt des Willens mit einmische. 
Die päbstliche Hierarchie wuste sich des Irrthums in Ansehung des ehelosen Lebens zu ihren herrschsüchtigen politischen Ansichten sehr gut zu bedienen, woher es dann kam, daß es auch die neuern Mysticker in der römischen Kirche so hoch anpriesen, und es als den Weg zu gröserer Vollkommenheit empfalen, ob sie gleich selbst die Schlange nicht ahneten, die unter dem Mantel der Heiligkeit versteckt lag – nur schade, daß auch nun die protestantischen Mysticker diesen Irrthum in ihr System mit aufnahmen. 
Mit diesem Misbegriff vom ehelosen Leben, ist der andere, der die Einsamkeit betrift, sehr nahe verwandt; dieser hat einen zweifachen Ursprung: erstlich entstand er zur Zeit der ersten Christen, unter den schweren Verfolgungen, wo sich viele in die Wüsteneyen begaben, um da ungehindert Gott und Christo nach ihrer Ueberzeugung dienen zu können; die Freyheit in welcher solche Seelen leben, machte zu der Zeit das einsame Leben wünschenswerth, und wer dem Herrn von ganzem Herzen anhieng, der wanderte in abgelegene Oerter, um dort seine Neigung zu befriedigen; und zweytens: da man nun durch= 
          a 5          ge= 
X          Vorrede. 
gehends an solchen Einsiedlern einen höhern Grad der Heiligkeit, der Verläugnung alles Irdischen, und der Liebe Gottes bemerkte, so wurde die Idee bald herrschend, daß das einsame Leben ein kürzerer Weg zu dem höchsten Grad der Gott= und Christus=Aehnlichkeit sey, als das Wohnen in der bürgerlichen Gesellschaft, und der Umgang mit der grosen Welt. Auch diese Meynung wurde von der herrschsüchtigen Kirche vortreflich zu ihren Zweken benuzt; man stiftete nun Klöster, bannete durch schwere Gelübde ehelose Leute dahin, und bildete so einsame Gesellschaften , die in der Welt an nichts angeknüft waren, als an ihre Kirche, und ihr zu ihren Zwecken trefliche Dienste leisteten, und so kam dann auch dieser Begriff als ein wesentliches Stück mit in die Mystick. 
Indessen liegt denn doch etwas Wahres in dieser Sache: - denn es ist ausgemacht, daß ein Mensch, der sich von weltlichen Geschäften entfernt hält, und beständig in der Gegenwart Gottes, in himmlischen Betrachtungen lebt, weit eher und in höherm Grad, himmlisch gesinnt werden müsse, als einer der mit mancherley Amts= und Berufssorgen dieses irrdische Lebens belastet ist; allein es kommt hier aben alles darauf an, wer im Grund Gott am angenehmsten ist – wenn lezterer nämlich beydes, so viel er kann, miteinander verbindet? – ein sehr passendes Gleichnis wird die Sache ins helleste Licht setzen: 
          Laßt 
Von der Mystick.          XI 
Laßt uns zween junge Männer annehmen, die beyde mit Lust zur Gelehrsamkeit und zu den Wissenschaften angefüllt sind, beyde studiren also mit gröstem Fleiß, und werden frühzeitig sehr gelehrte und geschickte Männer; aber nun schlagen beyde sehr verschiedene Wege ein, der Eine wählt ein einsames Leben, um beständig studiren und im Reich der Wahrheiten fortzuforschen, ohne andern etwas aus de Schatz seiner Kenntnisse mitzutheilen. Der Andre aber nimmt ein öffentliches Amt an, würkt mit seinem herrlichen Talent zum Besten vieler Tausenden, und versäumt dann doch in müsigen Stunden das weitere Forschen nicht; dieser verbindet nun mit dem blosen Wissen auch practische Erfahrungen, und wird mit jedem Betracht ein weit edlerer Mann, als jener eigenliebige speculative Kopf, der sein Pfund vergräbt. Gerade so verhält sichs auch mit dem blos Einsamen, der in göttlicher Beschaulichkeit lebt; und mit jenem, der dieses thut und jenes nicht läst. 
Einer der reinsten und vortreflichsten Mysticker, die je gelebt haben, der seelige Gerhard Ter Steegen [Tersteegen], kann uns hier zu einem vorzüglichen Beyspiel dienen: er lebte auch ehelos und eingezogen; auch er lebte beständig in der Gegenwart Gottes, und übte die reine und wahre Mystick im strengsten Sinn aus, aber wie mannigfaltig nüzlich und thatenvoll war auch zugleich sein bürgerliches Leben? – er war besonders 
          von 
XII          Vorrede. 
von der Vorsehung dazu ausgerüstet, um am grosen Weltabend noch viele tausend Seelen zu klugen Jungfrauen zu bilden, und er hat sein Tagewerk redlich vollendet; um das nun besser zu können, mußte er den schweren mystischen Sterbens= und Verläugnungsweg wandeln; wäre er verheurathet gewesen, so hätte er sich nicht so ganz diesem Beruf widmen können, und darum muste er sich – nach dem Beyspiel unsers Erlösers – erst lang in der Einsamkeit üben, erst selber etwas lernen, ehe er andere lehren konnte. 
Daß aber nun diejenigen sehr irren, die ehlos, einsam und zurückgezogen – darum – leben wollen, weil es Tersteegen that, das liegt am Tage; die geistlichen Uebungen sind blos Mittel zum Zweck, um dem Reiche Gottes hienieden desto nützlicher zu werden, keinesweges aber der Zweck selbst. 
Endlich kommt nun noch die selbstgewählte Armuth der Mysticker hinzu, auch diese Meynung hat verschiedene Quellen: Die erste ist, daß man glaubt dadurch Christo ähnlicher zu werden, weil er im eigentlichsten Sinn ganz und gar nichts von irrdischen Gütern besaß; die zweyte gründet sich besonders auf den Anspruch Christi gegen den reichen Jüngling, daß er alles verkaufen, der Armen geben, und Ihm dann nachfolgen möchte, und überhaupt, daß sich Christus erklärt hat, die Reichen könnten schwerlich seelig werden. Die dritte enthält die richt= 
          tige 
Von der Mystick.          XIII 
tige Vorstellung, daß ein Geist, den die Erwerbung und Verwaltung irrdischer Güter erfüllt, nicht wohl zugleich mit allen seinen Kräften nach dem Reich Gottes trachten könne. Die vierte erregt die Besorgnis, daß der Reichthum leicht zur Ueppigkeit und zur Bedrückung des Armen und Schwachen gemisbraucht werden könne u. s. w. 
Hier geht nun wieder die gewöhnlich die Wahrheit in der Mitte: Wer den Reichthum zum Zweck seines Lebens macht, der ist ein solcher Reicher, der schwerlich oder gar nicht seelig werden kann; wer aber auch alle seine rechtmäßig erworbene Güter, ohne sie zweckmäsig zu verwenden hingiebt, blos um ihrer los zu werden, und dem Herrn besser dienen zu können, der machts wie ein Handwerksgesell, der seiner Werkzeuge alle wegwirft, und sich nun vor seinen Meister hinstellt, ihm den ganzen Tag vorschwäzt, daß er ihn so herzlich lieb habe, und daß er ihn, wegen seiner großen Geschicklichkeit und Kunst nicht gnug bewundern können. – Was meynt Ihr lieben Leser! – wird das dem Meiste wohlgefallen? 
Christus durchschaute jenen reichen Jüngling; Er wuste daß ihm sein Reichthum zum Strick werden würde, darum sagte Er: wenn du dich retten willst, so must du dich von deinem Reichthum los machen; daß dies aber keine Generalregel seyn könne, das versteht sich von selbst. Aber das versteht sich auch von selbst, daß der Christ 
seine 
XIV          Vorrede. 
seine Güter schlechterdings zu keinem andern Zweck haben dürfe, als dem Reich Gottes dadurch zu nützen. Daß dies wahr sey, das kann nicht hier, sondern es muß an einem andern Ort bewiesen werden. 
Da nun schon das gewöhnliche Christenthum, nach dem Begriff der Orthodoxie bey den Protestantischen Kirchen, dem natürlichen Menschen so eckelhaft ist, und bey dem gegenwärtig herrschenden Geist unserer Zeit ganz unerträglich wird, so lässt sich leicht erachten, was man von der Mystick denken müsse; die nun gar die verhaßtesten Pflichten der Religion und des practischen Christen=Lebens im allerstrengsten Sinn nimmt; und doch ist es ewige Wahrheit, daß dem allen ungeachtet, der wahre Mysticker, wenn er nur die wahre reine Herzens=Demuth, die aus gründlicher Erkänntniß des eigenen Unwerths, und daß man schlechterdings Gott alles zu verdanken habe, entsteht, zu einem Hauptgegenstand der Heiligkeit macht, unter die Zahl der wahren und ächten Gottes= und Christus=Verehrer gehöre, und daher auch ein sehr schätzbares Glied am Leibe Jesu Christi sey. 
Daß er es aber in noch höherm Sinn, und ohne so viele Umwege hätte werden können, wenn er Vorurtheilsfreyer gewesen wäre, und die wahre Mystick in ihrem reinsten Zustand gekannt hätte, das ist gar keinem Zweifel unterworfen. 
          Dieses 
Von der Mystick.          XV 
Dieses führt mich nun von selbst zum zweyten Theil dieser meiner Vorrede, wo ich nun auch zeigen will, wie die wahe [sic; wahre] Mystick in ihrem reinsten Zustand aussieht? – Das ist: ich will nun den wahrhaften und richtigen Begrif derselben völlig entwickeln, deutlich, ausführlich, und vollständig darstellen. 
Der obengedachte seelige Gerhard Ter Steegen [Tersteegen] kann als ein wahrer Reformator der Mystick angesehen werden; die Alten unterstellten zwar auch das Evangelium, und den wahren Glauben an das Erlösungswerk Christi, aber sie redeten zu wenig davon, sie bezogen sich gleichsam nur im Vorbeygehn darauf, und setzten das Wesen der Heiligung zu sehr in practisch=beschauliche Uebungen, Tersteegen aber verbande beydes gehörig miteinander, und schrieb auch deutlicher als alle seine Vorgänger, mithin auch erbaulicher; in allen seinen Werken herrscht Einfalt und Lauterkeit, Bibelsinn und Christus=Religion ohne Schwärmerey und Bildersprache; er bedient sich zwar auch noch gewisser mystischer Ausdrücke und Redensarten, aber doch so, daß sie leicht verstanden werden können. Möchten nur alle seine Freunde un achfolger, die ich so sehr verehre und liebe, und hochschätze, mehr seine Lehren, als sein individuelles Leben zum Muster ihres Wandels machen! – Tersteegen war ein sehr frommer Mann, ganz ohne Tadel, allein er für seine Person war unverheurathet, und hielt sich von 
          der 
XVI          Vorrede 
der äussern Kirchen entfernt; diese beyden Stücke machte er aber nicht zu Lebensregeln für alle, sondern er ließ da jedem seine Freyheit – er für seine Person mochte Ursachen dazu haben, deswegen soll man sich aber nicht auch von der Kirche separiren, oder ehelos leben – darum weil es Tersteegen that. Dies sage ich nur im einiger seiner Verehrer willen; denn ich weis sehr viele, die verheurathet sind, und sich auch zur Kirche halten. 
Eins aber muß ich noch in Ansehung des theueren apostolischen Mannes, des seel. Tersteegen erinnern; es betrift eine Sache, sie seinen Schriften, auch bei vielen Rechtschaffenen Schaden gethan hat, und manche gutwillige Seele vom Lesen derselben zurückschreckt; an sich ist es blos Misverstand, denn der seelige Mann hat vollkommen recht, er hat nur im Ausdruck gefehlt, und ein Wort gewählt, das nicht zu dem Begrif passt, den er damit verbindet. Er nimmt nämlich das Wort Vernunft durchgehends für sinnliche oder fleischliche Vernünfteley; diese und keine andere meynt er, wenn er das Wort Vernunft braucht – das was Paulus 1 Cor. 2, v. 14 den natürlichen Menschen nennt, der nichts vom Geiste Gottes weis, das nennt Ter Steegen [Tersteegen] – Vernunft – dadurch giebt er nun dem Lästerer, nicht ohne Grund, Ursach zu sagen: der Mann verwirft die Vernunft, er will die Leute unvernünftig machen. – 
          Worte 
Von der Mystick.          XVII 
Worte die ich mehrmals habe hören müßen. Andere stutzen wenn sie an eine solche Stelle in seinen Schriften kommen, und agen: - Wie? Christus und seine Apostel wollen ja haben, daß unser Gottesdienst im Geist und in der Wahrheit, vernünftig seyn soll – und endlich habe ich auch viele gefunden, die den seel. Tersteegen und seine Schriften verehren, und würcklich den Ausdruck Vernunft, im gewöhnlichen Verstand nehmen, folglich diese herrliche Gabe Gottes, die allein den Menschen von den Thieren unterscheidet, und wodurch er allein, wenn sie vom Licht Gottes erleuchtet ist, fähig wird, ein Erbe des Himmels zu werden, ganz verwerfen und verläugnen, so daß man mit vernünftigen Vorstellungen, wenn sie auch noch so gewiß und richtig sind, nichts ausrichtet, sondern immer hören muß: Weg damit! das ist Vernunft! – Diese guten Leute sollten doch bedencken, daß man ohne Vernunft ja nicht einmal prüfen kann, ob etwas dem Worte Gottes gemäß ist, oder nicht. 
Es wäre daher sehr nöthig, daß der Sinn, den der seel. Tersteegen mit dem Wort Vernunft verband, in einer Vorrede zu seinen Schriften deutlich entwickelt würde: denn er war selbst ein sehr vernünftiger, weißer [sic; weiser], und kluger Mann, der sich warlich! weder durch Imagination, noch durch Empfindeley, sondern durch den Geist Gottes in seiner erleuchteten Vernunft, ganz und allein leiten lies. Nach dieser voraus= 
          b          gegan= 
XVIII          Vorrede 
gegangenen Bermerkung empfehle ich nun allen meinen Lesern die Schriften dieses Mannes; keiner dems um das Heil seiner Seelen ernstlich zu thun ist, wird sie ohne Seegen wieder aus der Hand legen, besonders, wenn er dann auch seinen Blick zugleich auf unsre merkwürdige Zeit richtet, und die Pflichten damit verbindet, die uns unsre jetzigen Verhältnisse auflegen. 
Die wahre practische Mystick im reinsten Verstand, ist im Grund nichts anders als der einfältige lautere und evangelische Glaubens= und Heiligungs=Weg, die Reinigung durch das Blut Christi; der Weg den auch das Mitglied der Brüdergemeine wandelt, wenn es anders ein wahres Mitglied derselben ist. Die Mährische Brüderkirche kennt keinen andern Weg zur Seeligkeit als diesen, nur mit dem Unterschied, daß der Mysticker seinen Blick auf den Proces der Reinigung und Heiligung richtet, und diesen beschreibt, wenn er sich erklären und von seinem Zustand Rechenschaft geben soll; der Herrnhuter hingegen, sieht nur immer auf die wirckenden Ursachen jenes Prozesses, und drückt sich blos durch Worte aus, die darauf Bezug haben; so bald sich aber beyde gründlich gegeneinander erklären, so findet man immer, daß sie im Grunde einerley Weg gehen, nur daß sie nicht einerley Sprache führen; der wahre Pietist hingegen geht zwischen beyden in der Mitten. 
          Wie 
Von der Mystick.          XIX 
Wie leicht! – o Freunde! – wie leicht, und wie nützlich wäre dahere die Vereinigung, oder innere Geistesgemeinschaft und Verbrüderung zwischen allen Kindern Gottes? – es käm nur darauf an, daß man einmal alle selbstsüchtigen Vorurtheile ablegte, und sich dann mehr an die reine und einfache Bibelsprache gewöhnte, so würde man sich bald verstehen, und zur inneren Verbrüderung, die zu unsern Zeiten so sehr nöthig sind, übergehen können. Von einer äussern oder politischen Kirchenvereinigung rede ich hier gar nicht, die kann bey gegenwärtigen verworrenen Umständen nicht statt finden, sie ist aber auch nicht nöthig: denn sie wird sich von selbst machen, wenns einmal Zeit ist. 
Indessen ist es doch auch nicht weniger richtig, daß es Menschen giebt, deren Caracter entweder so beschaffen ist, oder deren Bestimmung zu besondern Werckzeugen im Reiche Gottes es erfordert, daß der Geist Gottes, und seine Vorsehung, einen tiefern, schärfern und genauern Glaubens= und Heiligungs=Weg mit ihnen einschlagen müßen, wie mit andern, die in Ansehung ihrer sittlichen Natur, und Bestimmung, leichter zu ziehen und auszubilden sind. Jene die also einen schwereren Weg geführt werden, und zu dieser Classe auch eben der theuere und werthe Verfasser der folgenden Lebensgeschichte, sind eigentliche wahre Mysticker, deren ich auch gnug in der Brüdergemeine weiß, 
b 2          ob 
XX          Vorrede 
ob sie gleich eine andere Sprache führen, und nicht so heißen; aber das ist auch eine ausgemachte Sache, daß es einem solchen ernsten Kämpfer in dieser Gemeine leichter gemacht wird, als einem, der von aussen keine Leitung und Unterstützung hat: denn die genaue Seelenführung und Disziplin, die immerwährende Beschäftigung der Sinnen mit anmuthigen und lieblichen Gottesdienstlichen Gebräuchen und Handlungen, und der tiefe Eindruck, der dadurch im Blick auf die Versöhnung mit Gott durch das Leiden und Sterben Christi, immer rege und würcksam erhalten wird, nährt und stärckt den Geist unaufhörlich, so daß er mit weit weniger Leiden und Mühe die schweren Kämpfe der Mystischen Stände bestehen kann, als einer der diesen sauern Gang an dem Faden der Vorsehung allein gehen muß, wie auch dieses bey unserm lieben Verfasser der Fall war. Indessen bleibt das ewig gewiß, was er mit Würde und Ernst irgendwo auf Apostolischen Grund gegründet sagt: An dem geistlichen Leibe Jesu Christi sind viele Glieder, alle sind von einander verschieden, jedes bedarf seiner eigenen Zubereitung, deswegen soll keins dem andern seinen Weg für unrichtig erklären, weil er nicht der nämliche ist, den es gegangen hat – das Ohr soll nicht zum Aug sagen, du bist kein Glied am Leib, weil du kein Ohr bist, sondern jedes soll den Stand des andern respektieren, und nur wohl acht haben, daß es selbst das ausrichtet, wo= 
          zu 
Von der Mystick.          XXI 
zu es zum b esten des Ganzen verordnet ist. Ach Gott! würde doch diese ewig wahre Regel der Gottes= und Menschenliebe nur immer beobachtet, wie leicht würde dann die Vereinigung aller Partheyen zum allgemeinen grosen Ziel werden! 
Nachdem ich nun alle diese Bemerkungen vorausgeschickt habe, so kann ich nun auch zeigen, was denn die Mystick eigentlich sey? – und worinn sie bestehe? – das ist: ich kann nun ihren reinen und wahren Begrif entwickeln. 
Wenn der Mensch gründlich erkennt, daß er auf dem Wege den er bisher gewandelt hat, seine Bestimmung zur Gottähnlichkeit, durch den Glauben an den Welt=Erlöser, nicht erreichen kann, sondern sich vielmehr immer weiter davon entfernt, und dem ewigen Verderber entgegeneilt, so fasst er den festen Entschlus, ein anderer Mensch zu werden, das ist: sich zu bekehren; er wendet sich also zu Gott in Christo, und ringt ernstlich im Gebät um Gnade und Kraft zur Ausführung dieses Vorsatzes; zugleich aber fängt er nun auch an, genau auf seine Gedancken, Worte und Wercke zu wachen, um sie nach dem Willen Gottes, und seinen Geboten einzurichten. So wie dies geschieht, so fängt nun auch alsofort die vorbereitende oder züchtigende Gnade Gottes ihr Werck in seiner Seelen an; diese würckt folgender Gestalt: jemehr man auf sich acht giebt, je mehr man seine Einbildungskraft, und überhaupt die Geschäftigkeit der Seelen beobachtet, desto 
          b 3          klärer 
XXII          Vorrede 
klärer bemerckt man das grundlose sittliche Verderben, und man wird allmälig überzeugt, daß sich das Schlangengift der Selbstsucht in alle, auch die besten Gedanken Worte und Wercke mit einmische; so wie dieses geschieht, so empfindet man auch bey den besten und edelsten Handlungen, im Blick auf das Unreine das immer damit vereinigt ist, eine sehr ernste Rüge und Züchtigung im Gewissen, wodurch man strenge angewiesen wird, zu verläugnen das ungöttliche Wesen mit allen sündlichen Lüsten und Begierden, und eben dies ist dann jene Würckung der züchtigenden Gnade, die allemal mit einer sehr schmerzhaften Empfindung Traurigkeit und Schwermuth verpaart geht; dadurch wird nun die Seele immer mehr angefeuert, noch ernstlicher zu wachen und zu bäten, und noch heldenmüthiger zu kämpfen, allein je mehr sie sich anstrengt, desto mehr Gräuel entdeckt sie, desto ohnmächtiger sinkt sie zurück, und desto strenger werden die Forderungen der züchtigenden Gnade. Das ist aber auch ganz natürlich; denn durch die beständige Einkehr in sein Innerstes, und Beobachtung dessen was da vorgeht, lernt man sich immer besser kennen, und dadurch wird man dann leider! gewahr, was man sonst nie geglaubt hätte: nämlich daß man von Grund aus unaussprechlich verdorben ist; zugleich aber fühlt man nun auch das Uebergewicht der sündlichen Kräfte, und man wird bald von der Unmöglichkeit überzeugt, diese 
          Macht 
Von der Mystick.          XXIII 
Macht der Finsternis zu überwinden, und doch soll man es – die züchtigende Gnade überzeugt die Seele in ihrem Innersten, daß dies des Menschen unnachläßliche Pflicht sey; hier geht nun die Noth an – was soll man dann nun anfangen? – Ey! zu Christo eilen, der ja gesagt hat: Kommt her zu mir alle, die ihr mühsälig und beladen seyd, ich will euch erquicken! u. s. w. [Mt 11, 28] und wer zu mir kommt, den will ich nicht hinausstoßen. [Joh 6, 37] Jetzt ist nun einer solchen Seele Jesus Christus und seine Erlösung willkommen; jetzt erkennt sie, daß man in keinem andern Namen in der ganzen Schöpfung Heil und Rettung finden könne, als im Namen Jesu, jetzt schickt sich das Glauben von selbst: denn die vom göttlichen Licht durchstralte Vernunft begreift nun unwidersprechlich, daß die ganze Versöhnungs= und Erlösungslehre höchst vernünftig und göttlich ist; folglich nimmt sie nun mit ihrem ganzen Wesen ihre einzige Zuflucht zum gekreuzigten Erlöser, und übergiebt sich ohne Vorbehalt ganz und ewig an die Leitung und Führung seines heiligenden Geistes, und nun findet sie Ruhe, sie ist der Vergebung ihrer Sünden versichert, und all ihr Streben geht jetzt dahin, der züchtigenden Gnade, die nunmehr auch die Heiligung übernimmt, unbedingten Gehorsam zu leisten. 
Diese erste Periode des christlichen Lebens, nennen die Apostel Sinnesänderung; und die neue Geburt, Wiedergeburt folgt unmittelbar 
          b 4          dar= 
XXIV          Vorrede 
darauf; die christlichen orthodoxen Theologen geben ihr den Namen Buße, Bekehrung, und Wiedergeburt, die Pietisten nennen sie die Erweckung, und der Mysticker den Zug des Vaters zum Sohn; im Grund aber ist das alles Eins. 
So wahr es ist, daß ein jeder wahrer Christ diesen Weg gehen, und sich durch diese enge Pforte auf den schmalen Weg durchzwängen muß, so gewiß ist es auch, daß es fast eben so viele Verschiedenheiten in der Führung auf demselben giebt, als menschliche Caractere gefunden werden, wozu dann noch Lage, Umstände, Zwecke u. d. g. das Ihrige mit beytragen: Diejenigen, die bis an ihre Erweckung froh gewesen sind, und in groben Sünden und Lastern gelebt haben, werden gewöhnlich mächtig erschüttert; denn wenn ihnen ein Licht über ihren Zustand aufgeht, und sie nun alle die Gräuel auf einmal sehen, die in ihrer Seelen herrschend sind, so empfinden sie nun alle tiefen Jammer, und sie weinen und flehen aus der Tiefe ihres Kummers so lang zu Gott empor, bis sie Vergebung der Sünden im Erlöser gefunden haben; solchen groben Sündern ist aber auch eine solche kräftige Rührung nöthig, wenn ihre Sinnesänderung bleibende Frucht bringen soll. Hingegen Andere, die entweder von Jugend auf in religiösen und frommen Gesinnungen erzogen worden, oder sonst ehrbar und tugendhaft gelebt haben, früher oder später aber finden, daß 
          diese 
Von der Mystick.          XXV 
diese oberflächliche Tugend zur Ererbung des Reichs Gottes nicht hinreichend sey, wenden sich auch ernstlich zu Gott in Christo; auch ihnen wird, bey anhaltendem Wachen und Beten [sic], ihr inneres Verderben – aber nach und nach – aufgedeckt; auch sie empfinden oft schmerzhaft ihre Sünden, aber nicht so auf einmal wie jene, mit einem Wort: bey ihnen geht alles langsamer, und sie rücken, wenn sie anders treu sind, allmälig und unvermerkt aus einem Zustand in den andern; der Weg selbst ist aber immer der nämliche. 
Hier muß ich eine höchst wichtige, wahre, aber auch zugleich sehr traurige Bemerkung machen: Viele gehen diese erste Erweckungs=Buße und Bekehrungs=Periode durch, und wenn sie dann die Versicherung der Vergebung ihrer Sünden empfunden haben, so freuen sie sich in diesem Johannes=Licht, und bleiben nun da stehen; - sie glauben, sie seyen nun begnadigte und wiedergebohrne Christen, und da sie einen Widerwillen gegen grobe Sünden empfinden, so sey der Geist Christi in ihnen herrschend; da sie aber nun die dem Christen ganz unentbehrliche Uebung, des beständigen Wandels vor Gott, mit unaufhörlichem Wachen und Beten, entweder ganz unterlassen, oder doch nur nachlässig üben, so kommen sie in dem Fortschrit [sic] der Erkänntnis ihres innern Verderbens, die doch eigentlich die Ursache des immerfortdauernden Zufluchtnehmens 
          b 5          zur 
XXVI          Vorrede. 
zur heiligenden Gnade des Geistes Christi ist, kaum einen Schritt weiter; daher sehen sie nur daß sie nun besser sind als tausend andere Menschen, darüber freuen sie sich; sie werden nun allmälig geistlich stolze Pharisäer und strenge Splitterrichter ihrer armen Brüder, ihre Balken aber bleiben in ihren Augen sitzen. 
Diese fürchterliche Klippe zu vermeiden, sezt nun der wahre Christ seinen Stab weiter: denn so wahr es ist, daß die heiligende Gnade alles in uns würken und ausrichten muß, so wahr ist es auch, daß dies Würken und Ausrichten nur dann statt finden kann, wann sich die Seele ohne Vorbehalt, und ganz an dies Gnade übergiebt, vor ihr bleibt, und sich von ihr bewürken läst. – Wenn ein Gefangener in einem unterirrdischen Kerker kränkelt und schmachtet, und der Arzt verspricht ihm Gesundheit, wenn er sich beständig in freyer Luft und Sonne aufhält, so ist es ja ewig wahr, daß Luft und Sonne ganz allein die Genesung bewürken, aber das ist doch unmöglich, wenn sich der Kranke nicht aus seinem Kerker macht, und sich beständig ihrer Würkungen aussetzt; also, der Mensch muß beständig sich in der Gegenwart Gottes, und im Andenken an Ihn erhalten; er muß unaufhörlich alle innere Würksamkeit der Seelen beobachten, so wie man seine Reden beobachtet, wenn man in der Gegenwart eines grosen Herrn ist, damit auch kein Gedanke entstehe, der nicht Gott geziemend ist; die Wachen mit unaufhörlichem 
          be= 
Von der Mystick.          XXVII 
betendem Sehnen, um Kraft zur Heiligung, ist nun die sogenannte Einkehr des Mystickers; die Uebung in derselben ist im Anfang sehr schwer: denn die Imagination läuft alle Augenblick mit der Aufmerksamkeit fort, aber man muß sie auch jeden Augenblick wieder einholen und streng im Zaum halten, doch darf das nicht mit ängstlichem Treiben, sondern es muß immer durch eine sanfte und ruhige Rückkehr in die Gegenwart des Herrn geschehen, nach und nach wird endlich diese Uebung leichter, und mit der Zeit so natürlich, daß man ausser dieser Seeleneinstellung keine Ruhe mehr findet. 
Diese Würkungen dieses Wandels vor Gott und des immerwährenden innern Gebets sind nun folgende: 
1) Die Vorstellungen der Sinnlichkeit in der Imagination, diese Quellen aller sündlichen Lüsten und Begierden, werden allmälig schwächer, und verlieren sich endlich ganz, wenigstens können sie ihre Herrschaft über den Willen nicht mehr ausüben; dies nennen dann die christlichen Lehrer die Selbstverläugnung, und das Absterben des alten Menschen. 
2) Dadurch wird nun die Vernunft mit dem Verstand immer reiner und ungetrübter; das Licht der göttlichen Wahrheit fängt an sie zu erleuchten, und von nun an kann man mit Paulo sagen: Daß sie des Herrn Klarheit mit aufgedecktem Angesicht im Gemüth zu spiegeln anfange; [= 2. Korinther 3, 18] diesen Zustand nennen die wahren Gottes= 
          ge= 
XXVIII          Vorrede. 
gelehrten die Erleuchtung; man erlangt dadurch leine neue Offenbarung, sondern die im Worte Gottes enthaltene tiefere Geheimnisse werden einem immer klärer, und die Wahrheiten von der Erlösung durch Christum immer gewisser. 
3) Eben diese ruhige Aufmerksamkeit auf die innere Geschäftigkeit der Seelen im erleuchteten Gemüth, macht nun auch, daß man in der Erkenntnis seines unergründlichen sittlichen Verderbens immer weiter kommt; man merkt nun, daß keine einzige, auch die beste Handlung, von selbstsüchtiger Absicht frey ist; alles, alles, auch das Heiligste ist um und um mit Sünden befleckt; dies bewürkt dann die eigentliche wahre Demuth, und die Vernichtigung seiner selbst, man wird immer mehr und mehr überzeugt, daß man selbst nichts, und Gott Alles sey, und man findet, daß auch unsre besten Handlungen nur dann nüzlich werden, wenn die Vorsehung das Ihrige dabey thut, und daß man also ja nicht würken müsse, bis sie eine Thür dazu öfnet und dahin winkt. Mit dieser immer tieferen Erkenntnis des eigenen Verderbens, geht aber die immer wachsende Zuflucht zum Leiden und Sterben Christi verpaart; man wird dadurch zwar immer gebeugter, nachgiebiger gegen alle Menschen, sanftmüthiger, zum herzlichen Verzeihen geneigter und demüthiger, allein man wird deswegen nicht schwermüthig, und verzagt nicht mehr; es 
          müste 
Von der Mystick.          XXIX 
müste denn seyn, daß man sich gröblich vergangen hätte, und die Busübung wiederholen müste. 
4) Da der Mensch in diesem Zustand die Sinnlichkeit und die Imagination schlechterdings nicht herrschen läst, sondern immerfort verläugnet, und durch die erleuchtete Vernunft beherrscht, folglich ganz und gar nichts denkt, redet und thut, als was von dieser erst geprüft, und dem Willen Gottes gemäß gefunden worden, so ist er durchaus für aller Schwärmerey sicher, und alle die den wahren Christen und Mystiker dieser Abirrung beschuldigen, urtheilen gerade wie der Blindgebohrne von der Farbe, sie sollten billig da schweigen, wo sie nicht einmal stammeln, geschweige lehren können. Die beständige Einkehr und der Wandel in der Gegenwart Gottes mit unaufhörlichem Wachen und Beten, hat also auch den grosen – unbeschreiblich wichtigen – Nutzen, daß man für Schwärmerey und Verführung jedes Irrgeistes sicher ist. 
5) Wenn man lange und immer treu in der Uebung der Einkehr, oder des Wandels in der Gegenwart Gottes, mit Wachen und Beten beharrt hat, so fängt man an im Innersten des Gemüths (die Mysticker sagen, im Seelengrunde) ein schlechterdings unbeschreibliches Etwas zu empfinden, ein Etwas das mit den Sinnen zu thun hat, - denn es ist durchaus keine Vorstellung von irgend einer Sache, sondern ein ganz geistiges, tief beruhigendes Gefühl, aber 
          auch 
XXX          Vorrede. 
auch nicht allein Gefühl, sondern Gewisheit des Daseyns eines unaussprechlichen einfachen Wesens, wovon man aber auch weiter nichts als eben dieses Daseyn erkennt, dessen Würkung auf die Seele ist durchdringend und mächtig; sie wird dadurch tief gerührt, gebeugt, sie möchte sich für Gott ganz aufopfern; der Geist wird sanft, gehorsam bis zum Tode, voller Liebe gegen Gott und alle Menschen, man möchte ein Fluch und Fegopfer werden, sich unter das kleinste Kind beugen, und man fühlt innig, tief und unwiderruflich, daß der Wille ganz und ewig dem Willen Gottes aufgeopfert ist; die Empfindung der Nähe dieser schlechterdings unverkennbaren Majestät, deren Gröse mit nichts verglichen werden kann, zieht dann die Seele mächtig empor, und erleichtert den Fortschritt auf dem Weg der Heiligung ungemein; alle Mysticker beschreiben dies Gefühl ohne gleichen, aber alle stammeln auch nur: denn es ist durchaus unbeschreiblich. Dies ist das, was die Apostel den Geist Gottes in uns nennen, der unserm Geist Zeugnis giebt, daß wir Gottes Kinder sind; der in uns Abba lieber Vater ruft, und uns mit unaussprechlichem Seufzen vertritt; dies ist der Tröster, den uns der Herr versprochen hat, der bey uns bleiben, und uns in alle Warheit leiten soll. Dieser Geist stimmt nun alle unsere Leidenschaften um; er erweckt unaussprechliche Liebe zu Christo, und macht uns fühlbar, daß sein Erlösungswerk der einzige Grund unserer Seeigkeit [sic; Seligkeit] 
          ist 
Von der Mystick.          XXXI 
ist, forthin hält man sich ganz und allein an dieses verborgene, ewig bey uns bleibende, unaussprechlich majestätische, und innig nahe Etwas, welches ganz conform mit der erleuchteten Vernunft und dem Worte Gottes, den Willen sanft dahinneigt, wo gewürkt und gehandelt werden soll. – Wohl! ewig wohl dem! der da nur ernstlich folgt! Ich warne aber treulich jeden Erweckten, so sehr ich nur warnen kann, ja nicht zu bald irgend eine geheime wohlthätige Empfindung für eine Würkung des Daseyns dieses erhabenen Wesens anzusehen, damit er nicht schrecklich betrogen und misleitet werde: - denn so lang noch irgend eine sinnliche Lust herrschend über den Willen ist – ich sage mit Bedacht und Nachdruck herrschend, so lang ist an die Anwesenheit dieser hohen Empfindung gar nicht zu denken; so lange man, im Collisions=Fall, das Allererlaubteste und erhabenste sinnliche Vergnügen, für die geringste Linderung der Noth, oder nothwendigen Befriedigung irgend eines geringen Bedürfnisses des Nebenmenschen, auch des bösen und feindseeligen nicht aufopfern kann, so lang ist jedes, auch das erhabenste Gefühl keine Würkung der Gegenwart des heiligen Geistes. Dazu gehört dann auch besonders eine lange Uebung im Wachen und Beten, und im Wandel vor Gott, und eine gänzliche Verläugnung alles eigenen Wollens und Würkens, so land da noch irgend eine – auch die feinste sinnliche Lust ein stärkerer Bestimmungs= 
          grund 
XXXII          Vorrede. 
grund, als irgend eine edle Handlung ist, so lang wäre es Täuschung irgend eine Empfindung für jene seelige Nähe des Herrn zu halten. Das innere Leben des Geistes in dieser Nähe ist das beschauliche Leben des Mysticker, und jenes erhabene Etwas nennen sie Christum in uns – es ist aber nur der durch Leiden und Sterben vollkommen gemachte Geist Christi, der sich auf eine unbegreifliche Weise, der menschlichen Seele, die ihm den Eingang zu ihr geöfnet hat, mittheilt, und sie erleuchtet, gerecht spricht, heiligt, und von der Herrschaft der Sünden erlöst. Der seelige Tersteegen hat diesen Zustand sehr schön besungen in dem Lied: Ach Gott, man kennet dich nicht recht! – es steht in seinem geistlichen Blumengärtlein S. 379. der neunten Auflage. 
6) Seelen, deren Caractere entweder wegen allzugroser Reizbarkeit zum Genuß des Vergnügens, oder deren Bestimmung zu höheren Zwecken, eine so tiefe und gründliche Cur erfordern, werden nun auch eben durch jenen Geist Christi in den so genannten mystischen Tod geführt; diese ist aber nichts anders als eine gänzliche Beraubung aller – auch der reinsten, geistigsten und sittlichsten Vergnügen; - ein Zustand der über alle Beschreibung schwer und leidensvoll ist; man muß oft viele Jahre in demselben einsam und mühselig fortpilgern, und wird nur selten und sparsam getröstet und erquickt; an 
          sinn= 
Von der Mystick.          XXXIII 
sinnlichen Vergnügen hat man ganz und gar keine Freude mehr, und der Genuß, den edle Handlungen der Wohlthätigkeit, oder der Hinblick auf jenes ewige und eelige Leben gewähren, fehlt auch gänzlich. – O es ist eine ausserordentlich peinliche Lage! – Zwar dauert die Empfindung jener erhabenen, verborgenen und unaussprechlichen Majestät fort, aber mit ihrem tiefen, ruhigen, und unendlich friedensvollen Gefühl, ist die Gemeinschaft der Leiden Jesu Christi verbunden; mit einem Wort: dieser schmerzvolle, aber äusserst nüzliche Zustand, läst sich seiner eigentlichen Beschaffenheit nach mit keiner Feder beschreiben; er hat den Zweck, alles Eigennützige, alles Dienen um Belohnung, auch um der ewigen Seeligkeit willen, in den Tod Christi hinzuopfern, und blos darum alle seine Kräfte um Dienst der Gottes und Menschenliebe zu verzehren, weil es unbedingte Pflicht, und uns Gott dafür nichts schuldig ist. Dies nennen die Mysticker uninteressirte oder uneigennützige Liebe. Hieher gehören die biblischen Sprüche: Wenn mich der Herr auch töden wollte, so will ich doch auf ihn hoffen [vgl. Richter 13, 23] – [Lk 17, 10:] wenn ihr alles gethan habt, was ihr zu thun schuldig seyd, so seyd ihr doch unnütze Knechte, und Christus am Creutz: [Mk 15, 34 et par.:] Mein Gott! mein Gott! warum hast du mich verlassen? u. a. m. Endlich 
7) ist dann noch mit diesem langwierigen mystischen Tod auch eine gänzliche Entblösung von aller Glaubensgewisheit verpaart; und eben die 
          c          ser 
XXXIV          Vorrede. 
ser nakte oder dunkle Glaube verursacht beynah das gröste Leiden – man muß über das alles noch immer die Forderung – Ach! – die strenge Forderung im Gemüth empfinden: Siehe! das alles bist du auch dann noch schuldig zu thun, wenn es auch keinen Erlöser giebt, und wenn es auch mit der ganzen christlichen Religion un allen ihren Gütern und Verheisungen nichts wäre, und doch treibt die züchtigende Gnade unerbittlich zur reinsten und freymüthigsten Bekenntnis Christi und seiner Lehre, man fühlt sich ganz bestimmt, für Ihn zu sterben, und das auch ganz ohne Belohnung in jenem Leen, und überhaupt, so wund einem auch die Füße auf diesem rauen Verläugnungs= Und Heiligungspfade werden, so ist doch an kein Stillestehen, vielweniger Zurückgehen zu denken, sondern man wird unaufhaltbar durch dieses Thal der Schatten des Todes fortgetrieben, bis dieser Zustand zu seinem Ziel gelangt ist; dieses Ziel ist aber dann auch herrlich: denn nun ist man zu allem geschickt, wozu einen die Vorsehung nur immer brauchen will; man hat gar keinen eignen Willenmehr, sondern man ist vollkommen gelassen und übergeben in den Willen Gottes; man nimmt Freuden und Leiden, Genuß und Entbehrung, gleichmüthig und mit Gott ergebener Seele von der Hand Gottes an, und geniest dabey den innern Frieden, der über alle Vernunft geht, und dies ist dann endlich der Stand der wahren Gelassenheit der Mysticker. 
          Man 
Von der Mystick.          XXXV 
Man muß aber ja nicht glauben, daß ein Mensch der bis dahin gekommen ist, von aussen so ganz bewunderungswürdig engelrein sey. – Ach nein! er trägt immer noch den sündlichen und sinnlichen Cörper mit sich herum, zwar ist – und muß er von groben Vergehungen frey seyn, aber allerhand kleine Uebereilungen und Schwächen kommen denn doch noch öfters vor, und diesen sinds denn auch eben, die ihn beständig in der Demuth halten, und dem Stolz keinen Raum lassen; aber wer auch – wenn er bis dahin gelangt ist, noch stolz seyn könnte, der müste ja auf einmal zum Satan werden, und das scheint mir beynahe unmöglich: - denn wie ist da Stolz möglich, wo man auch nicht das allergeringste eigene Gute in seinem ganzen Wesen entdeckt, sondern wo alles bloses Gnadengeschenk der ewigen Liebe ist? – Wie kann ein Verbrecher, der vielmahl den Tod verdient hat, stolz auf die Gnade seyn, die ihm wiederfährt, wenn ihm das Leben geschenkt wird? – 
Seht, meine lieben Leser! dies ist die richtige Entwicklung der Begriffe von der wahren Mystick; die Sache ist so klar, der menschlichen und göttlichen Natur, und der ganzen christlichen Heilslehre so angemessen, daß weder der gründliche unpartheyische Philosoph, noch der wahre Christ, mit Grund etwas dagegen einwenden kann; jetzt leset nun in dieser Rücksicht folgende Lebensgeschichte mit ruhigem, Gottergebenem, und liebevollem Herzen, so wird sie euch nüzlich 
          c 2          und 
XXXVI          Vorrede. 
und gesegnet seyn, und ihr werdet in den wunderbaren Schicksalen des werthen christlichen Verfassers, mit tiefer Rührung und Beugung den hohen Grad der mütterlichen Vorsehung zum Heil der Menschen erkennen. 
Aber nun muß ich auch in Ansehung meiner selbst noch etwas hinzufügen, und ich bitte so sehr ich bitten kann, diese meine Erklärung nicht etwa für Bescheidenheit, oder gar für Demuth sondern für reine Wahrheit zu halten: das was ich in dieser Vorrede vom erhabenen Heiligungsweg des Christen gesagt habe, ist nicht alles eigene Erfahrung, sondern zum Theil auch Erkänntnis im Licht der Wahrheit, von dem grosen Stück jenes Weges, das ich nich durchzukämpfen habe. Zwar würde ich auch der erbarmenden Gnade Gottes in Jesu Christo zu nahe treten, und die Selbstverläugnung in Ungerechtigkeit verwandeln, wenn ich euch bereden wollte, ich hätte von dem allem noch nichts erfahren – Nein! Gottlob! – ich bin schon sehr lange auf diesem Wege nach Hauß; wenn ich eich aber gestehen sollte, wie klein der zurückgelegte Theil des Weges gegen diese lange Zeit ist, so müste ich mit dem seeligen Tersteegen sagen: ich darf dir nicht entdecken, wie schlecht es mit mir aussieht, damit du mich nicht für stolz hältst. 
Marburg den 26. Jun. 
1799. 
Dr. Johann Heinrich Jung. 
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