Joseph Freiherr von Eichendorff (1788-1857) beurteilt Jung-Stilling

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Der deutsche Roman des achtzehnten Jahrhunderts in seinem Verhältniß zum Christenthum. – Von Joseph Freiherrn von Eichendorff. – [eL] Leipzig: F. A. Brockhaus. – 1851.
 
In diesem Werk Eichendorffs liest man zu Jung-Stilling:
 
 
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Diese pietistische Richtung ist eigentlich nur eine Abart der sentimentalen, die auf die Religion angewandte Sentimentalität; indem alle Radien des Gefühls, das Jene lediglich um seiner selbst willen und gleichsam als ein Kunstwerk für sich behandelten, von den Pietisten innerlicher und praktischer auf das Christenthum wie in einem Brennspiegel concentrirt wurden. Unter den Letztern ist Johann Heinrich Jung, genannt Stilling (1740 – 1817) der hervorragendste, ein durchaus ehrenwerther Charakter, dem, bei allem seinen Um= und Irrwegen, kein Unbefangener den innigsten Antheil versagen wird; denn so irren konnte nur ein redlich Suchender.
 
Stilling ist recht das Bild eines glaubensbedürftigen und glaubensstarken Gemüths, wie es sich außerhalb der Kirche ausnimmt und jederzeit ausnehmen muß: mitten zwischen Trümmern das vereinsamte, lediglich auf sich selbst gewiesene Individuum mit der Bibel in der Hand. Diese protestantische Vereinsamung erklärt die ganze merkwürdige Erscheinung des Mannes. Es ist freilich das Christenthum, aber mehr oder minder ein Jung=Stilling’sches, durch diese besondere Persönlichkeit bedingtes Christenthum; die Persönlichkeit ist Alles. Daher sind auch fast alle seine Romane persönlich, eine mehr oder minder getreue Darstellung seiner eigenen innern Erlebnisse. Und wenn überhaupt der Zusammenstoß einer idealen Natur mit der Wirklichkeit das Wesen des modernen Romans bildet, so ist seine berühmte Selbstbiographie („Heinrich Stilling’s Jugend, Jünglingsjahre, Wanderschaft“, 1778) recht eigentlich zu den
 
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Romanen zu zählen; man könnte sie die religiösen Flegeljahre einer frommen Gemüths nennen. Der Grundgedanke dieser Schrift aber, sowie bei allen seinen fingirten Romanhelden, ist eine unmittelbare göttliche Leitung, der Glaube, daß Gott sie persönlich durch willkürliche oder zufällige Hindernisse oder Förderungen einem oft kaum geahnten großen Ziele zuführe.
 
Da eine solche Führung indeß nicht bloß materiell sein kann, sondern vielmehr die innern Regungen, Wünsche und Stimmungen des Geführten als Winke Gottes gedeutet werden sollen, so liegt hier natürlicherweise die Gefahr der Täuschung und Selbstüberschätzung sehr nahe; und beide blieben auch bei Stilling nicht aus. So hat ihn, wie er in seiner Biographie meint, Gott selbst nacheinander zur Schulmeisterei, dann zur Medicin und endlich zur Staatsökonomie geführt, und doch war offenbar weder dies noch das andere sein wirklicher Beruf. So schloß er, in gleicher Ueberzeugung von der göttlichen Fügung, mit einem ihm fast unbekannten hysterischen Mädchen eine Ehe, die sich gleichwol nachher als ungeeignet erwies. Und wenn er in demselben Buche erzählt, daß er und seine Frau zuweilen auf der Reise wie Engel Gottes aufgenommen worden, oder daß die Vorsehung etwas ganz Sonderbares und Großes mit ihm vorhaben muß, so klingt dies mindestens wie Ueberhebung eines theologischen Autodidakten.
 
Aus jenem Gefühl individueller Vereinsamung stammt auch seine beständige Sehnsucht nach einem Surrogat der verlassenen Kirche, das Bestreben, eine unsichtbare Kirche mit einer gleichgestimmten Gemeinde von „Stillingsfreunden“ herzustellen. In seinem „Heimweh“ z. B.
 
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soll der Christ durch die Prüfungen des Geheimordens der Felsenmänner zum Kreuzritter in dem Tempel von Jerusalem ausgebildet werden. Die Geschichte zerfährt aber sogleich in maßlose Allegorien. Die Felsenmänner, Aeltern und Freunde des Eugenius, der Urania, der graue Mann, Theodor u. s. w. sind lauter göttliche Geisteskräfte, die den Christen im Anfang und Fortgang leiten, die Frauen von Eitelberg, von Trauer, von Nischlin und andere dagegen finstere verführende Kräfte, zwischen denen der arme Eugenius fast wie Tamino in der Zauberflöte erscheint. Derselben Ungenüge eines Glaubensbedürftigen außerhalb der Kirche entsprang ferner die oft willkürliche und phantastische Auslegung der Bibel, z. B. in seiner Erklärung der Offenbarung Johannes („Siegsgeschichte der christlichen Religion“), wo die Ankündigung der Nähe des Antichrists und der Wiederkunft Christi den Hauptgedanken bildet; – sowie endlich sein ängstlich
umhertappendes Bemühen, seine religiösen Aperçus mit der Gedankenrichtung der Zeit in Einklang zu bringen und zu einer christlichen Religionsphilosophie zu construiren. Es ist rührend, wie er in letzterer Beziehung sogar von der Kant’schen Philosophie sich Berechtigung und Erlaubniß holt, in religiösen Dingen dem Glauben allein folgen zu dürfen, weil Kant den Satz aufgestellt, daß die menschliche Vernunft außer den Grenzen der Sinnenwelt nichts wisse.
 
Da aber dies Alles für die Dauer natürlich weder gelingen noch befriedigen kjonnte, und die grübelnde Vernunft auf solchem Wege sich keineswegs beschwichtigen ließ, so verfiel Stilling fast sein halbes Leben hindurch den trostlosesten Zweifeln und namentlich dem Aberglau=
 
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ben an ein in der Natur der Dinge liegendes unabänderliches Fatum, gegen das selbst das Beten nicht helfe. Ja er äußert einmal gegen seine Frau: „Wenn die Qual der Verdammten in der Hölle auch nicht größer ist als die meinige, so ist sie große genug.“ [Me: LG S. 561; auch bei Gelzer 1841] Und voll Unmuth über so viel innere und äußere Anfechtungen fragt er ein andermal: „Warum haltet ihr einen Mann für ein großes Genie, wenn seine Seele im Reiche der Phantasie herumschwärmt, herrlich dichtet, herrlich malt und vortreffliche Romane schreibt? Das tadelt ihr nicht; hingegen wenn ein phantasiereicher Kopf die Religion für einen würdigen Gegenstand hält und von ihr romanen= und feenhafte Begriffe hat, dann möchtet ihr auffahren und einen solchen Mann aus der menschlichen Gesellschaft hinausbannen.“ [Me: anscheinend nur 1841 bei Gervinus S. 273 zitiert.]
] Hierauf ist denn freilich einfach zu antworten: weil eben die Religion kein Roman ist. Und dies hat auch Stilling selbst recht gut gefühlt, denn durch seine späteren Schriften geht das unverkennbare Bestreben, die Religion von dem „Romanhaften“ immer mehr zum Praktischen hinüberzuleiten. In seinem „Herrn von Morgenthau“ wird der Pietismus aus seiner exclusiven Stellung auf Wohlthätigkeit und eine gemeinnützige Wirksamkeit hingewiesen, und im „Theobald“ hat er den ausgesprochenen Zweck, „unser deutsches Vaterland zu belehren, daß der Weg zum wahren zeitlichen und ewigen Glück zwischen Unglauben und Schwärmerei mitten durchgehe“. Von dem letzten Buche sagte er selbst, daß er darin eigentlich Nichts erdichtet, sondern das Leben des Helden aus lauter wahren Begebenheiten zusammengesetzt, und sogar aus seinem eigenen Leben einige Anekdoten mit eingeflochten habe. Da er mithin hier wieder
 
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seine eigenen innern Erfahrungen gibt, und gleichsam, rectificirend, mit sich selbst ins Reine zu kommen und abzuschließen strebt, so wollen wir diesen Roman noch besonders hervorheben und mit wenigen Worten näher beleuchten.
 
„Theobald, oder die Schwärmer“ (1784) ist, so sehr sich auch der Autor dagegen zu verwahren sucht, eigentlich doch nur eine Apotheose des Pietismus, mit dem ängstlichen Bemühen, ihn möglichst im Spiegel des Verstandes aufzufassen. Er sagt es selbst: „Verzeiht mir, theure Seelen, die ihr von ganzem Herzen sucht Gott zu gefallen und ihm zu dienen, rechtschaffene, wahre Pietisten; vornämlich euch zu vertheidigen schreibe ich, aber auch, euch vor vielen Klippen zu warnen, die der guten Sache so unendlich schädlich sind und der Welt Anlaß zur Lästerung geben.“ Aber wie sind diese vielen gefährlichen Klippen zu vermeiden? Wo das subjective Gefühl allein das Steuer regieren soll. wird es immerdar von Wind und Wetter und den wechselnden Stimmungen des wetterwendischen Steuermanns abhängen, ob das Schifflein auf den Sand des Rationalismus läuft, oder in dem romanhaften Utopien der Schwärmer landet. Oder fliegt nicht unser Autor schon selbst mit vollen Segeln dem letztern zu, wenn er ausruft: „Ich kenne kein besseres Leben, als die schöne Schwärmerei jener Zeiten gewährte; man setze sich einmal in die Stelle jener Menschen, jener Hochmannianer und Anderer mehr. Ihr seht einen Menschen, der überzeugt ist, die ganze Welt liege im Argen, und es stehen ihr große Strafgerichte bevor; er aber habe den Zutritt, den Eingang in die Stadt der Freiheit gefunden, er sei nun sicher. Zudem
 
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ist er gewiß, daß er nun bald, er, ein armer geringer Mensch, König und Priester im herrlichen Reich Christi wird, wo seine Herrlichkeit erst tausend Jahre hier in der Welt, ganz ohne Wechsel, und dann eine ganze Ewigkeit durch, alle Majestät der größten Könige hinter sich lassen soll. Was meint ihr wol, ist ein Mensch, der so Etwas von Herzen glaubt, nicht beneidenswürdig? Sollte man eine solche Gesinnung unter dem Volke nicht fördern, sie wenigstens mit Geduld leiten und tragen?“
 
Man sieht also, nach welcher Seite hin die eigenen Sympathien des Autors gingen; allein er war zu ehrlich und verständig, um vor den nothwendigen Consequenzen dieses Zuges nicht stutzig zu werden, ohne doch aus dem heimatlichen Zauberkreise herauszukommen, Bei diesem peinlichen Conflict hat er sich nun im Theobald . wie schon das Motto: „Mittelmaß die beste Straß“ andeutet – wahrhaft abgemartert, die an sich unversöhnlichen Extreme zu vermitteln, und in diesem Dilemma zwischen Unglauben und Schwärmerei bewegt sich das ganze Buch. Daher die seltsamen Widersprüche und Contraste in diesem Romane, wo das eine immer wieder aufhebt, was das andere beweisen will.
 
So geht die Geschichte von vorn herein von dem Grundsatze aus, daß die republikanische Freiheit der Reformation dem Reiche der Wahrheit zuträglich sey; denn „wenn Jeder frei denken darf, so erscheinen Millionen Lehrsätze, die Jeder beleuchten kann, dadurch entstehen allgemeine Gährungen, die dem Geist immer mehr Licht und Reinigkeit geben“. Demungeachtet wird weiterhin, diesem anarchischen Umwege zur Wahrheit geradezu entgegen, wiederum behauptet, keine Religion könne ohne
 
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äußere kirchliche Verfassung, Ceremoniel und Symbole bestehen, weshalb der Separatismus und alle besondere Sektirerei so selten gute Früchte habe, die Sache möge so rein und heilig angefangen werden als sie wolle. Er will, wie wir gesehen, in diesem Romane eigentlich den Pietismus verteidigen, und doch erscheint derselbe fast überall als eine Parodie des Pietismus. Er erzählt darin unter Anderm, in Bezug auf den Grundsatz von einer unmittelbaren, speciellen göttlichen Leitung, seine eigene schon oben erwähnte Verlobungsgeschichte. Ein hysterisches Mädchen spricht während ihrer Krankheit in frommer Verzückung. „Theobald riß den Vorhang ihres Bettes voneinander und fragte: Was ist Ihnen, Mademoiselle, was ist geschehen? Sie sah ihn bedenklich an und antwortete: Herr Theobald, da hat mir der Herr Jesus etwas sehr Wichtiges gesagt, ich darf aber nichts davon entdecken bis zu seiner Zeit. – In dem Augenblick empfand er eine Rührung seiner Seele, und war überzeugt, daß sie Beide sich heirathen sollten. Sowie er das fühlte, sagte er lächelnd: Ich weiß es, was Ihnen der Herr Jesus gesagt hat. – Wissen Sie’s? – Ja, ich weiß es, wir sollen uns heirathen, hier ist meine Hand! – Ja, das ist der Wille Gottes; mit diesen Worten schlugen sie ihre Hände ineinander und versprachen vor Gott, sich zu heirathen.“ Aber gleich darauf – nicht unähnlich dem Eimer kalten Wassers, womit Marsay den Sektirer Rock curirte – folgt die ebenso prosaische als richtige Bemerkung, daß die Liebe zwischen solchen jungen Leuten nichts Anderes sey „als Geschlechtstrieb, der sich aber hinter der Larve erhabener geistiger verfeinerter Liebe steckt, und durch sie hervorheuchelt, allerhand
 
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Rollen spielt und sich dann doch endlich zu befriedigen sucht“. Es wird ferner Niemand in Abrede stellen, daß die Erziehung des Theobald correct=pietistisch gehalten ist: er wird von allen andern Kindern abgesondert, sein eigener Wille beständig gebrochen, alle seine Leidenschaften unaufhörlich unterdrückt; „so bildete sich kein einziger gewaltsamer Zug in seinem Gesicht, Alles war sanfte Unschuld und unbeschreibliche Anmuth“. Allein was war die Folge davon? Er spielt Religion, ein Luxus, der den Pietisten überhaupt zum Vorwurf gemacht werden könnte. Er hält das Nachbarkind Lisettchen albern für die Eva mit dem Apfel, wurde zur Abwechselung, da das phantastische Gefühl einseitig gespannt und der Wille gebrochen ist, auch einmal ein ganz ungezogener Bube, und läuft dann wieder, um Einsiedler zu spielen, echt=picarisch in die Wälder hinaus, wo sein blindes Vertrauen auf die Kraft des Gebets von einem humoristischen Kohlenbrenner mit einem Butterbrote derb mystificirt wird.
 
Fassen wir nun den Ideengang dieses seltsamen Romans in kurze Worte zusammen, so ergibt sich ungefähr folgendes System. Nach den Grundsätzen der pietistischen Erziehung bewirkt Gott, oder der Geist Christ, die Empfindungen in den Herzen der Frommen, und darum ist man auch schuldig, sein Leben darnach einzurichten. Aber nicht alle Empfindungen, auch fromme Menschen, sind gut, denn selbst in den frömmsten gelüstet noch das Fleisch wider den Geist. Man muß daher jedesmal erst nachforschen, ob die Empfindung wirklich von Gott ist, und nur, wenn man sie kraft dieser Prüfung nach der Bibel dem Willen Gottes gemäß findet, darnach handeln, oder mit andern Worten:
 
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„sich von seiner durch das Wort Gottes erleuchteten und von demselben ganz unabhängigen (christlichen) Vernunft leiten lassen“. Allein dies heißt doch nur im Cirkel herumgehen. Ich soll nicht unbedingt meiner eigenen Empfindung folgen, sondern sie nach der Bibel prüfen, und doch wieder diese Empfindung und die Bibel nach meiner eigenen Empfindung und Vernunft auslegen, also dennoch Alles wieder auf mein subjectives Dafürhalten stellen. Stilling erzählt im Theobald scheußliche Geschichten von religiöser Schwärmerei, z. B. von einem jungen Schmied, der die rechte Materie zum Stein der Weisen gefunden zu haben glaubte; und von dem Sektirer Polin, welcher durch Reiben und Kneipen des Bauches am warmen Ofen den Uebergang aus dem natürlichen ins göttliche Leben eröffnete. Gegen alles dies verordnet nun Stilling sein Universalmittel: das einfältige Lesen der Bibel; vergißt aber dabei gänzlich, daß eben diese Schwärmer, die er überdies noch einfache gute Leute nennt, ihren heidnischen Unsinn gerade aus der Bibel herausgelesen hatten. Wo die Bibel lediglich der subjectiven Kritik des Einzelnen, es sei nun Verstandes= oder Gefühlskritik, anheimgegeben ist, da werden auch, da bei weitem nicht Jeder zu lesen versteht, ihre Wahrheiten stets in die verschiedensten Privat= und Winkelreligionen umgedeutet werden, und also die Klippen nimmer zu vermeiden sein, zwischen denen eben Stilling mitten durchsteuern wollte. Neben dem geschriebenen Worte aber geht seit fast zwei Jahrtausenden erweckend, mahnend und erläuternd der lebendige Strom von Erkenntniß der Frömmsten und Erleuchtetsten: die Tradition und drauf gegründete Autorität der Kirche, oder, wie man es in
 
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anderm Sinne mit Stilling nennen könnte, die „christliche Vernunft“ der Jahrhunderte.
 
An Heroismus des Glaubens steht Lavater dem Stilling gleich, aber er überragt ihn weit an Bildung und genialer Kühnheit des Ausdrucks. [... zu Lavater.]