Auf den Spuren Jung-Stillings
in seiner Heimat
Quellen
Die Texte geben auch einen guten Eindruck von dem Erzähltalent Jung-Stillings (vgl. hier).
O Jung-Stilling beschreibt seine Herkunft - Beschreibung der Nassau=Siegenschen Methode Kohlen zu brennen mit physischen Anmerkungen begleitet Von Johann Heinrich Jung. - Vorbericht. (1776/79)
O Ein anderer Bericht Jung-Stillings - August Ludwig Schlözer’s [...] Briefwechsel meist historischen und politischen Inhalts - Zehender Theil, Heft LV-LX. [...] Göttingen, [...] 1782, H. 56, S. 61 ff.
O Der Tod des Großvaters nach der „Jugend“ - Lebensgeschichte, hrsg. Benrath, S. 71 (hier nur im Auszug)
O Naturschilderung in den Jünglingsjahren – Lützel - Lebensgeschichte, hrsg. Benrath S. 93 f.
O Das Erlebnis mit dem Gewehr des Försters – Lützel - Christlicher Menschenfreund 1807, S. 92
O Jünglingsjahre - Lebensgeschichte, hrsg. Benrath, S. 145 ff.
O Jünglingsjahre - Lebensgeschichte, hrsg. Benrath, S. 172 ff.
O Jünglingsjahre - Lebensgeschichte, hrsg. Benrath, S. 90
O Jung-Stilling verlässt das Siegerland - Lebensgeschichte, hrsg. Benrath; Jünglingsjahre S. 183
O Jung-Stilling schreibt an seine Tochter Tochter Amalie in Mannheim - MÜLLER: Wenn die Seele geadel ist, Nr. 59,
S. 155-157
O Geschichte / des / Nassau=Siegenschen / Stahl= und Eisengewerbes. 1777 - Bemerkungen der Kuhrpfälzischen physikalisch=ökonomischen Gesellschaft, vom Jahre 1777. Lautern, im Verlage der Gesellschaft. 1779
O Staatswirthschaftliche Anmerkungen bei Gelegenheit der Holznüzung des Siegerlandes (1775) - Bemerkungen der Kuhrpfälzischen physikalisch=ökonomischen Gesellschaft, vom Jahre 1775. - Lautern, im Verlage der Gesellschaft. - 1779.
Jung-Stilling beschreibt seine Herkunft - Beschreibung der Nassau=Siegenschen Methode Kohlen zu brennen mit physischen Anmerkungen begleitet Von Johann Heinrich Jung. - Vorbericht. (1776/79)
Eine Reihe ziemlich hoher Gebirge scheidet das Fürstentum Nassau-Siegen von den Grafschaften Wittgenstein und Berlenburg: in diesen Gebirgen, welche aus lauter Hochgewälde bestehen, liegen kleine Dörfer hier und da zerstreuet, welche in den Thälern ihre schöne Wiesen, langs den Füsen der Berge hin aber ihre Gärten und Felder haben. Auch besizen sie gewisse Markungen und Gehölze, welche sie benutzen, so wie ich in meiner Abhandlung von der Holzzucht erzählet habe. In einem von diesen Dörfern auf der Nassauischen Seite, dem Gebirge gegen Abend, liegt ein Dörfchen, Im Grund genannt, welches ins Amt und Kirchspiel Hilgenbach gehört. Daselbst haben meine Vätter in ununterbrochener Fortdauer ein Haus und Bauergütchen bewohnt, und sich davon genähret, ohne daß wir den Anfang und die Herkunft unseres Geschlechtes von undenklichen Jahren sollten bestimmen können; das ist aber gewiß, daß ich mich rühmen kann: keiner von meinen Voreltern ist mit einer befleckten Seele und beladenen Gewissen zu seinen Vätern gesammelt worden. Soweit wir zurück rechnen können, waren sie alle ehrbare rechtschaffene Deutsche Biedermänner und fromme Leute.
Alle Bauern unseres Dorfes und der benachbarten Dörfer waren Kohlenbrenner, und so auch mein würdiger Großvater, Johann Eberhard Jung, einer von den seltenen Männern, die blos von der rohen Natur gebildet, dennoch Ernst, Sittsamkeit und sanfte Bescheidenheit zu Haupteigenschaften ihres Charakters gemacht haben. Wenn er in seinem leinenen Kittel durchs Dorf über die Straße ging: so verschwand Gelächter, Ausgelassenheit und Mutwille, ohne daß er jemalen polterte oder jemand bestrafte. Heiter und freundlich ernst sah er ruhig durch die Menschen hin, ihn kümmerte nichts, als was seinen Gott, sein Herz und seine Ehre antastete. Sein ältester Sohn, mein Oheim, schwung sich zuerst, durch seinen unersättlichen Hunger nach Kunst und Wissenschaften über seines Gleichen Bauernknaben empor, wurde Schulmeister, dann Drechsler und Uhrmacher, hernach Landmesser, Markscheider, Bergschöffe, Probirer, und darauf Nassau=Siegenscher Landbergmeister, welche Stelle er noch bis jezt mit Ruhm und Ehre bekleidet. Mein Vater (welcher gebrechliche Füse hat) lernete das Schneiderhandwerk, und widmete sich darauf ebenfalls, so lang er ledig war, dem Schulhalten. Er heirathete demnächst und zeugete mich nur allein mit meiner Mutter, und diese starb anderthalb Jahre nach meiner Geburt, so, daß ich also unter der Aufsicht meiner Groseltern und meines lieben Vaters erzogen wurde bis ins fünfzehente Jahr meines Alters, wo ich ebenfalls anfing Schule zu halten, und dabei in müsigen Stunden das Handwerk meines Vatters, um bessern Unterhalt willen, zu treiben. In diesen meinen Jugendjahren nun bis ins drei und zwanzigste meines Alters habe ich die schönste Gelegenheit gehabt, erstlich die Kohlbrennerei genau und praktisch kennen zu lernen. Ich war wißbegierig, und mein Grosvatter ganz zum Erzählen und Unterrichten aufgelegt; alles prägte sich tief meiner Seelen ein, und noch jezo ist’s mir, als wenn ich alles erst gestern gesehen hätte.
Eben so fügte es sich, daß ich Gelegenheit hatte, die dortige herrliche Eisenschmelzereien und Eisenstabhämmer gründlich kennen zu lernen. Mein Vatter widmete sich ebenfalls der Landmesserei.
Ich half ihm, war sein Handlanger; wir hatten, sonderlich in der Grafschaft Mark, viel mit Güterteilungen zu tun. Ich sahe daselbst die Osemund- und Drathmanufakturen [sic], entdeckte die vornehmsten und wesentlichsten Handgriffe derselben, und bereicherte allso meine Erkenntnisse. Darauf leitete mich die anbetungswürdige Vorsehung durch seltsame und schreckliche Wege ins Herzogthum Berg zu einem grosen Fabrikanten und Kaufmanne, einem Tochtersohne des in meiner Abhandlung vom Handlungsgenie gedachten Clarenbachs, Herrn Peter Johann Flender, einem Manne von grosen ökonomischen und Handlungseinsichten; [...]. Dieser rechtschaffene Mann zog mich von meinem Handwerke, und aus dem Staube hervor, ließ mich erst die Französische Sprache lernen, die Lateinische hatte ich schon hinlänglich begriffen, und nahm mich darauf für seine Kinder als Hauslehrer an; wobei ich ihm in allen seinen Geschäften, so viel ich konnte, treuen Beistand leistete. Hier war ich sieben Jahre, welche ich als so viele Lehrjahre in der Handlung, Fabrikenwesen und Oekonomie ansehen kann; eine starke Neigung zu allem, was Wissenschaft heist, feuerte mich beständig an, alles zu beobachten, und zu bemerken, was nur in Landwirtschaft und Commerzium einschlägt.
Vorzüglich war es ein Glück für mich: daß ich just nach und nach ein Gewerb mit allen seinen Zweigen kennen lernte. Im Nassauischen sind die ergiebigsten Eisen= und natürliche Stahlbergwerke, ich bin da gebohren und sah die Erze bearbeiten, ausfördern, rösten und schmelzen. Unter den Kohlbrennern erzogen, wußte ich auch diese Kunst, (eine Kunst ist es würklich) das Roheisen und Rohstahl sah ich zu Stäben schmieden, eben dieses Roheisen sah ich im Märkischen zu Osemund und Drat verarbeiten. Eben das Nassauische Stabeisen [...]. [...]
Wenn nun leinene Kittel, gute Holzäxte, eine grose hölzerne Butterdose, ein Paar Handkäse und ein Laib Brot bei der Hand sind, der leinene Quersack rein gewaschen und geflickt ist, so tut der Köhler seinen Proviant hinein, nimmt seine Holzaxt in die Hand und steiget zu Anfange des Maies, die Morgens mit Sonnenaufgange freudig das Gebirge hinan zu seinem Geköhle hin. Ich steige in meinen Gedanken mit – ein sanfter Schauer mit Wonne der Wehmut durchfährt meine Glieder - alle majestätische, wüste und stille Gegenden um meinen Geburtsort her gehen vor meiner Seele vorüber, ich denke mir den hohen Giller, mit seinen Riesensöhnen, den Ginsberg, den Hitzigenstein, das Kolbenholz, den Hänsgesberg, den Hannkopf, auf deren Spitzen ich viele Meilen weit entlegene Gebirge dunkelblau unter dem lichtblauen Horizonte erblickte, eine kühle, balsamische Morgenluft kroch durch meine grobe, schlechte Kleider und spielte mit meinen Haaren. Das lebhafte und herzerquickende Grün der Maibuchen, das unter allen Farben seinesgleichen nicht hat, zog immer meine Augen auf sich. Oh Natur, was ist die Schönheit aller Kunst gegen deine Herrlichkeit! – Schaaren von Nachtigallen zwitscherten ihre Zaubertöne untereinander; wie sehr mich die Geige eines Cramers, eines Cannabich, die Stimme eines ehrwürdigen Raffs, einer Danzy, einer Wendling hernach entzückt haben, so muss ich doch offenbar sagen, ihr Schauplatz war nicht so schön, wie der Schauplatz meiner ehemaligen Sänger und der Konzertmeister - - - war mehr als der würdige Holzbauer. - Der Mann mit den Silberhaaren legte dann seinen Quersack neben mir nieder, und sang mitvoller Seele sein Morgenlied: O allerhöchster Menschenhüter! Du unbegreiflich groses Gut! - Hier muß ich verstummen. [...]
Ich habe mit wahrer Wonne die einsame Wohnung des Köhlers beschrieben; keine seligere Zeit habe ich erlebt und werde sie in dieser Welt nie wieder erleben, als jene, wo ich mit meinem ehrwürdigen Großvater in einer solchen Kohlhütte schlief. Die einsame, ungekünstelte freie Natur, kein durch Menschenhände entweihter Gegenstand, Wald, lauter grüner Wald, zuweilen ein grüner Platz und kristallene Quelle, Wasser, wie in Eden quoll. Dann düstere Gebüsche, dann Riesenbäume, unter welchen man frei wandeln konnte, überall heilige Stille und feierliches Dunkel, nur die hohe Nachtigall modelt ihre kurzen Absätze. Die Morgenröte zeucht auf, vor ihr die funkelnde Venus, sie blitzelt zwischen den Blättern daher. Winde, sanfte Winde, Engel Gottes säuseln und lispeln auf den Gipfeln hundertjähriger Eichen und Maibuchen. Scharen von Vögeln fühlen die Gegenwart Gottes und stimmen tausendzüngigen Jubel an. Der majestätische Hirsch steht auf aus seinem Lager, reckt sich und reibt sein juckendes Geweih an schlanken Bäumen. Nun tritt die Sonne herauf, alles Schwarzgrün wird nun goldgrün, ein kühler Duft erfrischt alles, über dem Bächen ruhen stille Nebelwolken, und die Tauperlen glänzen auf jedem Grasplätzchen. Der dunkle Schatten des Waldes schützt vor der Sonnenhitze. Nichts ist fürchterlich schöner als ein Gewitter; der ganze Wald wird zur Dämmerung, das Heulen des Sturmwindes in all dem Laube und Ästen ist entsetzlich. Nun eilet man zur Rasenhütte, setzt sich hin und lauscht auf das Brüllen der Sturmwinde; es fängt an, die Erde mit Wassergüssen zu peitschen, es plätschert auf den Steinen, und mit tausend Blasen, die wie kleine Schiffe auf jedem Bächlein daher fahren, eilen durch jede Vertiefung trübe Ströme durch Berg und Tal hin. Still, einsam sitzt der Köhler, und in seiner Unschuld empfindet er die Gegenwart Gottes, wie sie unser Klopstock empfand. Die Sonne strahlt durch das glänzende Geläub, und die sieben Himmelsfarben duften vom schwarzen östlichen Himmel über die blendende grüne Seite des Waldes her. Der Abend ist kühl, - die Turteltaube seufzt, der Schatten steigt die Waldseite empor - kaum hörbar bläst in der Ferne der Viehhirt seine gehörnte Herde in die Trift. Fliegendes Gewölke wallt unter dem aufsteigenden Mond hin, der Köhler singt sein Abendlied und ißt seine Milch mit Seelenruhe, noch einmal geht er um seine einsame Wohnung, hört die lezten rauschenden Tritte des Wildes, und legt sich auf sein Mooslager schlafen.
Ein anderer Bericht Jung-Stillings - August Ludwig Schlözer’s [...] Briefwechsel meist historischen und politischen Inhalts - Zehender Theil, Heft LV-LX. [...] Göttingen, [...] 1782, H. 56, S. 61 ff.
Ich wurde als der einzige Sohn eines Handwerksmanns, im Hauße meiner GroßEltern, sehr sorgfältig, und zugleich zu dem Handwerke meines Vaters, angefüret; nebenher aber fülte ich schon früh einen unwiderstehlichen Trieb nach Wissenschaften. Dieser lenkte sich zu dem Fach, wozu er Gelegenheit hatte. Mein Vater war zugleich Schulmeister und Landmesser; ich lernte also gut rechnen und schreiben, und seine geometrischen und mathematischen Bücher gaben jenem Triebe Stoff genug zum Forschen.
Dies dauerte bis in mein zehntes Jar, als ich noch dazu in die lateinische Schule geschickt wurde. Von dieser Zeit an, bis in mein drey und zwanzigstes Jar, blieb ich immer in einerlei Wirkungskreiße. Neben meinem BrodVerdienste verbrachte ich meine Nebenstunden alle mit Mathematik, und Beobachtungen der Eisen= und Stalhütten, wie auch der Eisen= und Stalhämmer.
Alles was Oekonomie heißt, zog mich an; und ich erinnere mich noch mit Vergnügen an die Tage, in welchen ich Coleri Landwirtschaft, etwa im zwölften Jare meines Alters, ganz durchlas. Sonst lenkte sich mein Trieb besonders auf die Erforschung sämtlicher Gewerbe; so viel Zeit ich mir nur abmüssigen konnte, war ich zum Loh auf der herrschaftlichen Eisenhütte, oder zur Allenbach, oder in den Eisen= und Stalhämmern. Ueberall waren meine Freunde und Verwandte entweder Schmelzer oder Arbeiter in diesen Werkstätten; und mein Trieb nach Wissenschaften war unermüdet, sie um alles auszufragen.
Sehen Sie, werteste Leser! so verbrachte ich mer als die Hälfte meines Lebens; und ich weiß gewiß, daß hier kein Mensch mich dessen beschuldigen kan, was mir mein Gegner aufbürdet. Armer Wirkungskreiß eines Bauernknaben, dems sein Brodverdienst, und andere schwere Schicksale, schon sauer genug machten, so daß ihm die Lust vergeht, sich von jeher in einen zu vielfachen Wirkkungskreis, und in fremde Fächer, einzulassen. Oder waren Mathematik und Gewerbe jene Fächer, die mir nicht zukommen? Wars meines Vaters Handwerk vielleicht, zu welchem ich blos allein bestimmt war? hätte ich mich vielleicht nicht höher schwingen sollen? – Wer auf diese Fragen ja sagen kann, der ist nicht wert, Mensch zu heissen.
Der Tod des Großvaters nach der „Jugend“ - Lebensgeschichte, hrsg. Benrath, S. 71 (hier nur im Auszug)
Ein altes Herkommen, dessen ich (wie vieler andern) noch nicht erwähnt, war; daß Vater Stilling alle Jahr selbsten ein Stück seines Hausdaches, das Stroh war, eigenhändig decken muste. Das hatte er nun schon acht und vierzig Jahr gethan, und diesen Sommer sollt es wieder geschehen. Er richtete es so ein, daß er alle Jahr so viel davon neu deckte, so weit das Roggenstroh reichte, das er für dies Jahr gezogen hatte. [...]
Die Zeit des Dachdeckens fiel gegen Michaelstag, und rückte nun mit Macht heran; so daß Vater Stilling anfing darauf zu Werk zu legen. Henrich war dazu bestimmt ihm zur Hand zu langen, und also wurde die lateinische Schule auf acht Tage ausgesetzt. [...] Indessen stieg Vater Stilling mit dem Rasen das Dach hinauf. Henrich schnitzelte an einem Hölzchen; indem er darauf sah, hörte er ein Gepolter; er sah hin, vor seinen Augen wars schwarz wie die Nacht - Lang hingestreckt lag da der theure liebe Mann unter der Last von Leitern, seine Hände vor der Brust gefalten; die Augen starrten, die Zähne klapperten und alle Glieder bebten, wie ein Mensch im starken Frost. Henrich warf eiligst die Leitern von ihm, streckte die Arme aus, und lief wie ein Rasender das Dorf hinab und erfüllte das ganze Thal mit Zeter und Jammer. Margrethe und Mariechen hörten im Garten kaum halb die Seelzagende kenntliche Stimme ihres geliebten Knaben; Mariechen that einen hellen Schrei, rung die Hände über dem Kopf und flog das Dorf hinauf. [...]
Nun wurde Henrich beordert nach Florenburg zu laufen, um einen Wundarzt zu holen. Der kam auch denselben Abend, untersuchte ihn, ließ ihm zur Ader und erklärte sich, daß zwar nichts zerbrochen sey, aber doch sein Tod binnen dreyen Tagen gewiß seyn würde, indem sein Gehirn ganz zerrüttet wäre. [...]
Da bemerkte Cathrine zuerst, daß ihres Vaters Odem still stand. Sie rief ängstlich: Mein Vater stirbt! – Alle fielen mit ihrem Angesicht auf das Bette, schluchsten und weinten. Henrich stund da, ergriff seinem Großvater beide Füße und weinte bitterlich. Vater Stilling hohlte alle Minuten tief Odem, wie einer der tief seufzet, und von einem Seufzer zum andern war der Odem ganz stille; an seinem ganzen Leibe regte und bewegte sich nichts als der Unterkiefer, der sich bei jedem Seufzer ein wenig vorwärts schob.
Margrethe Stillings hatte bis dahin bei all ihrer Traurigkeit noch nicht geweint; so bald sie aber Catharinen rufen hörte, stund sie auf, ging ans Bett, und sah ihrem sterbenden Manne ins Gesicht; nun fielen einige Thränen die Wangen herunter; [...] und sagte: Leb wohl, Eberhard! in dem schönen Himmel! bald sehen wir uns wieder! So wie sie das sagte, sank sie nieder auf ihre Knie; alle ihre Kinder fielen um sie herum. Nun weinte auch Margrethe die bittersten Thränen und klagte sehr.
Die Nachbarn kamen indessen, um den Entseelten anzukleiden. Die Kinder stunden auf, und die Mutter hohlte das Todtenkleid. Bis den folgenden Montag lag er auf der Baare; da führte man ihn nach Florenburg, um ihn zu begraben.
Herr Pastor Stollbein ist aus dieser Geschichte als ein störrischer wunderlicher Mann bekannt, allein ausser dieser Laune war er gut und weichherzig. Wie Stilling ins Grab gesenkt wurde, weinte er helle Thränen; und auf der Kanzel waren unter beständigem Weinen seine Worte: Es ist mir leid um dich, mein Bruder Jonathan! Wollte Gott, ich wäre für dich gestorben! und der Text zur Leichenrede war: Ei du frommer und getreuer Knecht! du bist über weniges getreu gewesen, ich will dich über viel setzen; gehe ein zu deines Herrn Freude! [...]
Naturschilderung in den Jünglingsjahren – Lützel - Lebensgeschichte, hrsg. Benrath S. 93 f.
Diese hohe Empfindung hatte aber auch noch Nebenursachen; die ganze Gegend trug dazu bey. Man denke sich einen bis zur höchsten Stufe des Enthusiasmus empfindsamen Geist, dessen Geschmack natürlich, und noch nach keiner Mode gestimmt war, sondern der nichts als wahre Natur empfunden, gesehen und studirt hatte, der ohne Sorge und Gram höchst zufrieden mit seinem Zustand lebte, und allem Vergnügen offen stunde; ein solcher Geist liest den Homer in der schönsten und natürlichsten Gegend von der Welt, und zwar des Morgens in der Frühstunde. Man stelle sich die Lage dieses Orts vor; er saß auf der Schule an zweyen Fenstern, die nach Osten gekehret waren; diese Schule stand an der Mittagsseite, am Abhang des höchsten Hügels, um dieselbe her waren alte Birken mit schneeweißen Stämmen auf einem grünen Rasen gepflanzt, deren dunkelgrüne Blätter beständig fort im ewigen Winde flisperten.
Gegen Sonnenaufgang war ein prächtiges Wiesenthal, das sich an buschigte Hügel und Gebirge anschloß. Gegen Mittag lag, etwas niedriger, das Dorf, hinter demselben eine Wiese, und dann stieg unvermerkt eine Flur von Feldern auf, die ein Wald begränzte. Gegen Abend in der Nähe war der hohe Giller mit seinen tausend Eichen. Hier las Stilling den Homer im May und Junius, wenn ohne das die ganze halbe Welt schön ist, und in der Kraft ihres Erhalters jauchzet.
Ueber das alles waren auch seine Bauern gute natürliche Leute, die beständig mit alten Sagen und Erzählungen schwanger gingen, und bey jeder Gelegenheit damit herauskramten; dadurch wurde der Schulmeister vollends recht mit seinem Element genährt, und zu Empfindungen aufgelegt.
Das Erlebnis mit dem Gewehr des Försters – Lützel - Christlicher Menschenfreund 1807, S. 92
Als ich im Jahr 1755, im 15ten Jahr meines Alters auf der Lützel, einem einsamen Walddörfchen, in meinem Vaterland dem Fürstenthum Nassau=Siegen Schullehrer war, so hatte ich meinen Aufenthalt bey einem Förster. Nun kam ich einstmals im hohen Sommer des Nachmittags um 5 Uhr aus der Schule, ich fand niemand im Hauß, die Wohnstube war leer, ich gieng einige Mal auf und ab, und nun fielen mir einige Flinten in die Augen, die da hinter dem Ofen standen. Ohne etwas dabey zu denken, oder sonst etwas vor zu haben, nahm ich eine davon, die ziemlich alt und verrostet war, ich blies oben in den Lauf hinein, und da es mir vorkam, als könnte ich dadurch blasen, so glaubte ich, sie wäre nicht geladen, ich schlug die Pfanne auf, und fand sie leer, ohne Pulver, nun spannte ich auch den Hahn, ließ ihn los, und er gab Feuer, nun kam die Magd zur Thür herein, ich zielte auf sie, spannte den Hahn, und ließ ihn Feuer geben; sie drohte mir mit dem Finger, und sagte, mit den Flinten lässt sich nicht spassen! – und gieng dann zur andern Thür wieder hinaus, jetzt spannte ich den Hahn, noch einmal, löste ihn; mit einem fürchterlichen Knall gieng das Gewehr loß, die Kugel flog durch die Wand, an welcher der Viehstall sties, einem Ochsen zwischen den Hörnern durch, und dann auch noch tief in die gegen überstehende Wand; jetzt war mir schrecklich zu Muth, ich warf die Flinte hinter den Ofen, lief hinaus unter Gottes freyen Himmel, und weinee [sic; weinte], ich war erstarrt. Als ich wieder ins Haus kam, so fand ich die Magd mit rothgeweinten Augen, sie drohte mir wieder mit dem Finger, und sagte: wie unglücklich hätten wir beyde werden können! – diese Wahrheit fühlte ich auch tief, und fühlte sie für mein Lebenlang. […]
Jünglingsjahre - Lebensgeschichte, hrsg. Benrath, S. 145 ff.
Oben am Fenster stand ein Tisch; auf der einen Seite desselben saß der Präsident, ein großer Rechtsgelehrter; er war klein von Statur, länglicht und mager von Gesicht, aber ein Mann von einem vortreflichen Character, voller Feuer und Leben. Auf der andern Seiten des Tisches saß der Inspector Weinhold ein dicker Mann mit einem vollen länglichten Gesicht; der große Unterkinn ruhte sehr majestätisch auf dem feinen wohlgeglätteten und gesteiften Kragen, damit er nicht so leicht wund werden möchte; er hatte eine vortrefliche weiße und schöne Perrücke auf dem Haupt, und ein seidener schwarzer Mantel hieng seinen Rücken herunter; er hatte hohe Augbraunen und wenn er jemand ansahe, so zog er die untern Augenlieder hoch in die Höhe, so daß er beständig blinzelte. Die Absätze an seinen Schuhen krachten, wenn er drauf trat, und er hatte sich angewöhnt, er mochte stehen oder sitzen, immerfort wechselsweise auf die Absätze zu treten, und sie krachen zu lassen. So saßen die beyden Herren da, als die Partheyen herein traten. Der Secretarius aber saß hinter einem langen Tisch, und guckte über einen Haufen Papier hervor. Stilling stellte sich unten an den Tisch, die beyden Männer aber stunden gegen über an der Wand.
Der Inspector räusperte sich, drohte sich gegen die Männer, und sprach:
„Ist das air Schoolmaister?“
Ja, Herr Oberprediger!
„So! arächt! Ihr sayd also der Schoolmaister von Kleefeld?“
Ja! sagte Stilling.
„‘r sayd mer am schöner Kerl! wärt wärth, daß man aich aus dem Land paitschte!“
Sachte! sachte! redete der Präsident ein, audiatur et altera pars.
„Herr Präsident! das k’hört ad forum ecclesiasticum. Sie habä da nichts z’ sagä.“
Der Präsident ergrimmte und schwieg. Der Inspector sahe Stilling verächtlich an, und sagte:
„Wie’r da stäth’ der schlechte Mensch!“
Die Männer lachten ihn hönisch aus. Stilling konnte das gar nicht ertragen, er hatte auf der Zunge, er wollte sagen: wie Christus vor dem Hohenpriester! allein er nahms wieder zurück, trat näher, und sagte: was hab ich gethan? Gott ist mein Zeuge, ich bin unschuldig! Der Inspector lachte hönisch, und erwiederte:
„Als wenn ‘r nit wüßt, was’r selbstan begangä hat! fragt air K’wissä!“
Herr Jnspector! mein Gewissen spricht mich frey, und der, der da recht richtet, auch; was hier geschehen wird, weiß ich nicht.
„Schwaigt ‘r Gottloser! - sagt mer, Kerchäältester, was ist aire Klage?“
Herr Oberprediger! wir habens heut vierzehn Tage protocolliren lassen.
„Arächt’s is wahr!“
Und dieses Protocoll, sagte Stilling, muß ich haben!
„Was wollt’r? Nain! sollt’s nit habä!“
C’est contre l’ordre du prince versetzte der Präsident, und gieng fort.
Der Inspector dictirte nun und sagte: „Schraibt, Secretär! Hait erschienä N. N. Kerchäältester von Kleefeld’ und N. N. ainwahner daselbst, contra ihren Schoolmaister Stilling. Kläger beziehä sich of variges Protocoll. Der Schoolmaister begährte extractum protocolli, wird’m aber aus giltigä Ohrsachä abg’schlagä.“
Nun krachte der Inspector noch ein paarmal auf den Absätzen, stemmte die Hände in die Seiten, und sprach:
„Könnt nu nacher Haus geh!“ Sie giengen alle drey fort.
Gott weiß es, daß die Erzählung wahr, und würklich so passirt ist! Schande wärs für mich, der Protestantischen Kirche einen solchen Theologen anzudichten. Schande für mich! wenn Weinhold noch eine gute Seite gehabt hätte. - Aber! - Ein jeder junger Theologe spiegele sich doch an diesem Exempel, und denke: wer da will unter euch der Größte seyn, der sey der Geringste.
Stilling war ganz betäubt, er begriff von allem, was er gehört hatte, nicht ein Wort. Die ganze Scene war ihm ein Traum, er kam nach Kleefeld ohne zu wissen wie. So bald er da anlangte, gieng er in die Capelle, und zog die Glocke; dieses war das Zeichen, wenn die Gemeinde in einem außerordentlichen Nothfall schleunig zusammen berufen werden sollte. Alle Männer kamen eiligst bey der Capelle auf einem grünen Platz zusammen. Nun erzählte ihnen Stilling den ganzen Vorfall umständlich. Da sahe man recht, wie die verschiedene Temperamente der Menschen bey einerley Ursache verschieden wirken; einige rasten, die andern waren launigt, noch andere waren betrübt, und wieder andere waren wohl bey der Sache; diese rückten den Hut aufs Ohr, und riefen: kein T. . . soll uns den Schulmeister nehmen! Unter all diesem Gewirre hatte sich ein junger Mensch, Namens Rehkopf, weggeschlichen, er setzte im Wirthshaus eine Vollmacht auf, mit diesem Papier in der Hand kam er in die Thür, und rief: wer Gott und den Schulmeister liebt, der komme her, und unterschreibe sich! Da gieng nun der ganze Trupp etwa hundert Bauern hinein, und unterschrieben sich. Noch denselbigen Tag gieng Rehkopf mit zwanzig Bauern nach Salen und zum Inspector.
Rehkopf klopfte oder schellte nicht an der Thür des Pfarrhauses, sondern gieng gerade hinein, die Bauern hinter ihm her; im Vorhaus begegnete ihm der Knecht. Wohin? ihr Leute! rief er: wart! ich will euch melden! Rehkopf versetzte: geh, fülle deine Weinflasche! wir können uns selber melden; und so klotzten die zwey und vierzig Füße die Treppe hinauf, und gerade ins Zimmer des Inspectors. Dieser saß da im Lehnsessel, er hatte einen damastenen Schlafrock an, eine baumwollene Mütze auf dem Kopf, und eine feine Leydische Kappe drüber, dabey trunk er so ganz genüglich seine Tasse Schocolade. Er erschrack, setzte seine Tasse hin und sagte:
„Gott - ihr Lait - was wallt’r?“
Rehkopf antwortete: wir wollen hören, ob unser Schulmeister ein Mörder, ein Ehebrecher oder ein Dieb ist?
„Behüt Gott! wer sagt das?“
Herr! Sie sagens oder lassens, Sie behandeln ihn so. Entweder Sie sollen sagen und beweisen, daß er ein Missethäter ist, und in dem Fall wollen wir ihn selber abschaffen, oder Sie sollen uns Genugthuung für seine Schmach geben, und in diesem Fall wollen wir ihn behalten. Sehen Sie hier unsre Vollmacht.
„Waist ämahl her!“ Der Inspector nahm sie, und faßte sie an, als wenn er sie zerreißen wollte. Rehkopf trat hinzu, nahm sie ihm aus der Hand, und sprach: Herr! lassen Sie sich das vergehn! Sie verbrennen, weiß Gott! die Finger, und ich auch! “Ihr trotzt mer in main Haus?“
Wie Sie’s nehmen, Herr! Trotz oder nicht!
Der Inspector zog gelindere Saiten auf, und sagte: „Liebä Lait! ihr wißt nit, was air Scholmaister vor’n schlechter Mensch is, last mich doch machä!“
Eben das wollen wir wissen, ob er ein schlechter Mensch ist, versetzte Rehkopf.
„Schräckliche Dinge! Schräckliche Dinge! hab ich von dem Kärl k’hört.“
Kann seyn! ich hab auch gehört, daß der Herr Inspector sternvoll besoffen gewesen, als er letzthin zu Kleefeld Capellenvisitation gehalten.
„Was! Was! wer sagt das? wollt’r -“
Still! Still! ich habs gehört, der Herr Inspector richtet nach Hörensagen, so darf ichs auch.
„Wart, ich will euch lärnä.“
Herr! sie lernen mich nichts, und was das Vollsaufen betrifft, Herr! - ich stund dabey, wie Sie auf der andern Seite vom Pferd herunterfielen, als man Sie auf der einen hinauf gehoben hatte. Wir erklären Ihnen hiemit im Namen der Kleefelder Gemeinde, daß wir uns den Schulmeister nicht nehmen lassen, bis er überführt ist, und damit Adje!
Nun giengen sie zusammen nach Haus. Rehkopf gieng den ganzen Abend über die Straßen spazieren, hustete und räusperte sich, daß mans im ganzen Dorf hören konnte.
Stilling sahe sich also wiederum ins größte Labyrinth versetzt; er fühlte wohl, daß er abermal würde weichen müssen, und was alsdann auf ihn wartete. Unterdessen kam er doch hinter das ganze Geheimniß seiner Verfolgung.
Der vorige Schulmeister zu Kleefeld war allgemein geliebt gewesen; nun hatte er sich mit einem Mädchen daselbst versprochen, und suchte, um sich besser nähren zu können, mehr Lohn zu bekommen; deswegen, als er einen Beruf an einen andern Ort erhielte, so stellte er der Gemeine vor, daß er ziehen würde, wenn man ihm nicht den Lohn erhöhte: er glaubte aber gewiß, man würde ihn um einiges Gelds willen nicht weggehen lassen. Allein es schlug ihm fehl, man ließ ihm Freyheit zu ziehen, und wählte Stilling.
Jünglingsjahre - Lebensgeschichte, hrsg. Benrath, S. 172 ff.
Stillings Herz erweiterte sich. Er sah sich gleichsam aus einem finstern Kerker in ein Paradies versetzt. Er konnte nicht Worte genug finden, dem Pastor zu danken; wiewohl er doch einen heimlichen Schauer fühlte, wieder eine Schulbedienung anzutreten.
Herr Stollbein fuhr indessen fort: ,,Nur ein Knoten ist hier aufzulösen. Der hiesige Magistrat muß dazu disponirt werden, ich habe schon in geheim gearbeitet, die Leute sondirt, und sie geneigt für euch gefunden, Allein ihr wißt, wie’s hier gestellt ist, sobald ich nur anfange etwas nützliches durchzusetzen, so halten sie mir gerade deswegen das Wiederspiel, weilen ich der Pastor bin; deswegen müssen wir ein wenig simuliren, und sehen wie sich das Ding schicken wird. Bleibt ihr nur ruhig an eurem Handwerk, bis ich euch sage, was ihr thun sollt.“
Stilling war zu allem willig, und gieng wieder auf seine Werkstatt.
Vor Weyhnachten hatte Wilhelm Stilling sehr viele Kleider zu machen, daher nahm er seinen Sohn bey sich, damit er ihm helfen möchte. Kaum war er einige Tage wieder zu Leindorf gewesen, als ein vornehmer Florenbürger der Gerichtsschöffe Keylhof zur Stubenthür hineintrat. Stillingen blüthe eine Rose im Herzen auf, ihm ahndete ein glücklicher Wechsel.
Keylhof war Stollbeins größter Feind; nun hatte er eine heimliche Bewegung gemerkt, daß man damit umgienge, Stillingen zum Rector zu wählen, und dieses war so recht nach seinem Sinn. Da er nun gewiß glaubte, der Pastor würde ihnen mit aller Macht zuwider seyn, so hatte er schon seine Maaßregeln genommen, um die Sache desto mächtiger durchzusetzen. Deswegen stellte er Wilhelmen und seinem Sohn die Sache vor, und hielte darum an, daß Stilling auf Neujahr bey ihn ins Haus ziehen, und mit seinen Kindern eine Privat-Information in der lateinischen Sprache vornehmen möchte. Die andern Florenburger Bürger würden alsdann vor und nach ihre Kinder zu ihm schicken, und die Sache würde sich so zusammenketten, daß man sie auch gegen Stollbeins Willen würde durchsetzen können.
Diese Absicht war höchst ungerecht; denn der Pastor hatte die Aufsicht über die lateinische, wie über alle andere Schulen in seinem Kirchspiel, und also bey jeder Wahl auch die erste Stimme.
Stilling wußte die geheime Liegenheit der Sache. Er freute sich, daß sich alles so gut schickte. Doch durfte er die Gesinnung des Predigers nicht entdecken, damit Herr Keylhof nicht alsbald seinen Vorsatz ändern möchte. Die Sache wurde also auf die Weise beschlossen.
Wilhelm und sein Sohn glaubten nunmehro gewiß, daß das Ende aller Leiden da sey. Denn die Stelle war ansehnlich und einträglich, so daß er ehrlich leben konnte, wenn er auch heyrathen würde. Selbsten die Stief-Mutter fieng an, sich zu freuen; denn sie liebte Stillingen würklich, nur daß sie nicht wußte, was sie mit ihm machen sollte; sie fürchtete immer, er verdiene Kost und Trank nicht, geschweige die Kleider; doch was das letzte betrift, so war er ihr darinnen noch nie beschwerlich gewesen, denn er hatte kaum die Nothdurft.
Er zog also auf Neujahr 1762 nach Florenburg bey dem Schöffen Keylhof ein, und fieng seine lateinische Information an. Als er einige Tage da gewesen war, that ihm Herr Stollbein in geheim zu wissen, er möchte einmal zu ihm kommen, doch so, daß es niemand gewahr würde. Dieses geschah auch an einem Abend in der Dämmerung. Der Pastor freute sich von Herzen, daß die Sachen eine solche Wendung nahmen. ,,Gebt acht! sagte er zu Stilling, wenn sie sich wegen eurer einmal eins sind, und alles regulirt haben, so müssen sie doch zu mir kommen, und meine Einwilligung holen. Weil sie nun immer gewohnt sind, dumme Streiche zu machen, so sind sie auch gewohnt, daß ich ihnen allezeit contrair bin. Wie werden sie auf spitzige Stichelreden studiren? - und wenn sie dann hören werden, daß ich mit ihnen einer Meynung bin, so wird sie’s würklich reuen, daß sie euch gewählt haben, allein dann ists zu spät. Haltet euch ganz ruhig, und seyd nur brav und fleißig, so wirds gut gehen.“
Indessen fiengen die Florenburger an, des Abends nach dem Essen zum Schöffen Keylhof zu kommen, und sich zu berathschlagen, wie man die Sache am besten angreifen möchte, um auf alle Fälle gegen den Pastor gerüstet zu seyn. Stilling hörte das alles, und öfters mußte er hinausgehen, um durch Lachen der Brust Luft zu machen.
Unter denen, die bey Keylhof kamen, war ein gar sonderlicher Mann, ein Franzos von Geburt, der hieß Gayet. So wie nun niemand wußte, wo er eigentlich her war, desgleichen ob er lutherisch oder reformirt war, und warum er des Sommers eben sowohl wollene Ober-Strümpfe mit Knöpfen an den Seiten trug, als des Winters; wie auch, woher er an das viele Geld kam, das er immer hatte, so wußte auch niemalen jemand, mit welcher Parthie ers hielte. Stilling hatte diesen wunderlichen Heiligen schon kennen gelernt, als er in die lateinische Schule gieng. Gayet konnte niemand leiden, der ein Werkeltags-Mensch war; Leute, mit denen er umgehen sollte, mußten Feuer und Trieb und Wahrheit und Erkenntniß in sich haben; wenn er so jemand fand, dann war er offen und vertraulich. Da er nun zu Florenburg niemand von der Art wußte, so machte er sich ein Plaisir daraus, sie alle zusammen, den Pastor mitgerechnet, zum Narren zu haben. Stilling aber hatte ihm von jeher gefallen, und nun, da er erwachsen und Informator bey Keylhof war, so kam er oft hin, um ihn zu besuchen. Dieser Gayet saß auch wohl des Abends da und hielte Rath mit den andern; dieses war aber nie sein Ernst, sondern nur, seine Freude an ihnen zu haben. Einsmals, als ihrer sechs bis acht recht ernstlich an der Schulsache überlegten, fieng er an: ,,Hört, ihr Nachbarn, ich will euch was erzählen! Als ich noch mit dem Kasten auf dem Rücken längs die Thüren gieng und Hüte feil trug, so komm ich auch von ungefehr einmal ins Königreich Siberien, und zwar in die Hauptstadt Emugi; nun war der König eben gestorben, und die Reichsstände wollten einen andern wählen. Nun war aber ein Umstand dabey, worauf alles ankam; das Reich Kreuz-Spinn-Land gränzt an Siberien, und beyde Staaten haben sich seit der Sündfluth her immer in den Haaren gelegen, bloß aus der Ursache: Die Siberier haben lange in die Höh stehende Ohren, wie ein Esel, und die Kreuz-Spinn-Länder haben Ohrlappen, die bis auf die Schulter hangen. Nun war von jeher Streit unter beyden Völkern; jedes wollte behaupten, Adam hätte Ohren gehabt wie sie. Deswegen mußte in beyden Ländern immer ein rechtgläubiger König erwählt werden; das beste Zeichen davon war, wenn jemand gegen die andere Nation einen unversöhnlichen Haß hatte. Als ich nun da war, so hatten die Siberier einen vortreflichen Mann im Vorschlag, den sie nicht so sehr wegen seiner Rechtgläubigkeit, als vielmehr wegen seiner vortreflichen Gaben zum König machen wollten. Nur er hatte hoch in die Höhe stehende Ohren, und auch herabhangende Ohrlappen, er trug also in dem Fall auf beyden Schultern; das wollte zwar vielen nicht gefallen, doch man wählte ihn. Nun beschloß der Reichsrath, daß der König mit der wohlgeordneten hochohrigten Armee gegen den langohrigten König zu Felde ziehen sollte; das geschah. Allein, was das einen Allarm gab! - Beyde Könige kamen ganz friedlich zusammen, gaben sich die Hände und hießen sich Brüder. Alsofort setzte man den König mit den Zwitterohren wieder ab, und schnitte ihm die Ohren ganz weg, nun konnt er laufen.“
Der Bürgermeister Scultetus nahm seine lange Pfeiffe aus dem Mund, und sagte: der Herr Gayet ist doch weit in der Welt umher gewesen. Ja wohl! sagte ein anderer, aber ich glaube er giebt uns einen Stich; er will damit sagen, wir waren alle zusammen Esel. Schöffe Keylhof aber lachte, blinkte Herrn Gayet heimlich an, und sagte ihm ins Ohr: Die Narren verstehen nicht, daß Sie den Pastor und sein Consistorium damit meinen. Stilling aber, der ein guter Geographus war, und überhaupt die ganze Fabel wohl verstund, lachte recht herzlich und schwieg. Gayet sagte Keylhof wieder ins Ohr, Sie habens so halb und halb errathen.
Nachdem man nun glaubte, sich in gehörige Sicherheit gesetzt zu haben, so schickte man um Fastnacht eine Deputation an den Pastor ab; Schöffe Keylhof gieng selbst mit, denn er mußte das Wort führen. Stillingen wurde Zeit und Weile lang, bis sie wieder kamen, um zu hören, wie die Sache abgelaufen wäre. Er hörte es auch von Wort zu Wort. Keylhof hatte den Vortrag gethan.
„Herr Pastor! wir haben uns einen lateinischen Schulmeister ausgesucht, wir kommen her, um es Ihnen anzukündigen.“
Ihr habt mich aber nicht eh gefragt, ob ich den auch haben will, den ihr ausgesucht habt.
,,Davon ist die Frage nicht, die Kinder sind unser, die Schul ist unser, und auch der Schulmeister.“
Aber welcher unter euch versteht wohl so viel Latein, um einen solchen Schulmeister zu prüfen, ob er auch zu dem Amte nutzt?
„Dazu haben wir unsre Leute.“
Der Fürst aber sagte: Ich soll der Mann seyn, der den hiesigen Rector examiniret und bestättiget, versteht ihr mich!
,,Deswegen kommen wir ja auch her.“
Nun dann! ohne Weitläuftigkeit! - ich hab auch einen ausgesucht der gut ist, - und das ist - der bekannte Schulmeister Stilling!
Keylhof und seine Leute sahen sich an. Stollbein aber stund und lächelte mit Triumph, und so schwieg man eine Weile und sagte gar nichts.
Keylhof erholte sich endlich, und sagte: ,,Nun denn so sind wir ja einer Meinung!’’
Ja, Schöffe Starrkopf! wir wären denn doch endlich einmahl einer Meinung! bringt euren Schulmeister her! ich will ihn bestätigen und einsetzen.
,,So weit sind wir noch nicht, Herr Pastor! wir wollen ein eignes Schulhaus vor ihn haben, und die lateinische Schule von der teutschen sepperiren.“
(Denn beyde Schulen waren vereiniget, jeder Schulmeister bekam das halbe Gehalt, und der lateinische half dem teutschen in den übrigen Stunden).
Gott verzeih mir meine Sünde! da säet doch der Teufel wieder sein Unkraut. Wo soll euer Rector denn von leben?
,,Das ist wiederum unsre Sache und nicht die Ihrige.“
„Hört Schöffe Keylhof! Ihr seyd ein recht dummer Kerl! ein Vieh, so groß als eins auf Gottes Erdboden geht, schert euch nach Haus!
,,Was? Ihr - Ihr - scheltet mich?“
Geht großer Narr! ihr sollt nun euren Stilling nicht haben, so wahr ich Pastor bin! und damit gieng er in sein Cabinet’ und schloß die Thür hinter sich zu.
Noch eh der Schöffe nach Haus kam, erhielt Stilling Ordre nach dem Pfarrhaus zu kommen; er gieng und dachte nicht anders als er würde nun zum Rector eingesetzt werden. Allein, wie erschrack er nicht, als ihn Stollbein folgender Gestalt anredete:
,,Stilling! eure Sache ist nichts. Wenn ihr nicht ins größte Elend, in Hunger und Kummer gerathen wollt, so mehrt euch nicht weiter mit den Florenburgern.“
Und hierauf erzählte ihm der Pastor alles was vorgefallen war. Stilling nahm mit größter Wehmuth Abschied vom Pastor. Sey zufrieden! sagte Herr Stollbein: Gott wird euch noch segnen, und glücklich machen, bleibt nur an eurem Handwerk, bis ich euch sonsten anständig versorgen kann.
Die Florenburger wurden indessen bös auf Stillingen, weil er, wie sie glaubten, heimlich mit dem Pastor gepflügt hatte. Sie verließen ihn also auch, und wählten einen andern. Herr Stollbein ließ ihnen vor diesmahl ihren Willen; [...].
Jünglingsjahre - Lebensgeschichte, hrsg. Benrath, S. 90
Zellberg liegt eben hinter der Spitze des Gillers, man geht von Tiefenbach gerade den Wald hinauf; so bald man auf die Höhe kommt, hat man vor sich ein großes ebenes Feld, nahe zur rechten Seiten den Wald, dessen hundertjährige Eichen und Maybuchen in gerader Linie gegen Osten zu, wie eine Preußische Wachtparade, hingepflanzt stehen, und den Himmel zu tragen scheinen; fast ostwärts, am Ende des Waldes, erhebt sich ein buschigter Hügel, auf dem Höchsten, oder auch der Hänsgesberg genannt; dieses ist der höchste Gipfel von ganz Westphalen.
Von Tiefenbach bis dahin hat man drey Viertelstund beständig gerad und steil auf zu steigen. Linker Hand liegt eine herrliche Flur, die sich gegen Norden in einen Hügel von Saatland erhebt, dieser heißt: auf der Antonius-Kirche. Vermuthlich hat in alten Zeiten eine Capelle da gestanden, die diesem Heiligen gewidmet gewesen. Vor diesem Hügel, südwärts, liegt ein schöner herrschaftlicher Meyerhof, der von Pachtern bewohnt wird. Nordostwärts senkt sich die Fläche in eine vortrefliche Wiese, die sich zwischen buschigten Hügeln herumdrängt; zwischen dieser Wiese und dem Höchsten geht durchs Gebüsche ein grüner Rasenweg vom Feld aus, längs die Seite des Hügels fort, bis er sich endlich im feierlichen Dunkel dem Auge entzieht; es ist ein bloßer Holzweg, und von der Natur und dem Zufall so entstanden. Sobald man über den höchsten Hügel hin ist, so kommt man an das Dorf Zellberg; dieses liegt also an der Ostseite des Gillers, da, wo in einer Wiesen ein Bach entspringt, der endlich zum Fluß wird, und nicht weit von Cassel in die Weser fällt. Die Lage dieses Orts ist bezaubernd schön, besonders im späteren Frühling, im Sommer und im Anfange des Herbsts; der Winter aber ist daselbst fürchterlich. Das Geheul des Sturms, und der Schwall von Schnee, welcher vom Wind getrieben, hinstürzt, verwandelt dieses Paradies in eine Norwegische Landschaft. Dieser Ort war also der erste, wo Henrich Stilling die Probe seiner Fähigkeiten ablegen sollte.
Auf den kleinen Dörfern in diesen Gegenden wird vom ersten May bis auf Martini, und also den Sommer durch, wöchentlich nur zween Tage, nemlich Freytags und Samstags, Schul gehalten; und so wars auch zu Zellberg. Stilling ging Freytags Morgens mit Sonnen-Aufgang hin, und kam des Sonntags Abends wieder. Dieser Gang hatte für ihn etwas unbeschreibliches; - besonders wenn er des Morgens vor Sonnen-Aufgang auf der Höhe aufs Feld kam, und die Sonne dort aus der Ferne, zwischen den buschigten Hügeln aufstieg; vor ihr her säuselte ein Windchen, und spielte mit seinen Lokken; dann schmolz sein Herz, er weinte oft und wünschte Engel zu sehen, wie Jacob zu Mahanaim.
Wenn er nun da stund, und in Wonnegefühl zerschmolz, so drehte er sich um, sahe Tiefenbach unten im nächtlichen Nebel liegen. Zur Linken senkte sich ein großer Berg, der Hitzige Stein genannt, vom Giller herunter, zur Rechten vorwärts lagen ganz nahe die Ruinen des Geisenberger Schlosses. Da traten dann alle Scenen, die da zwischen seinem Vater und seiner seligen Mutter, zwischen seinem Vater und ihm, vorgegangen waren, als so viele vom herrlichsten Licht erleuchtete Bilder vor die Seele, er stund wie ein Trunkener, und überließ sich ganz der Empfindung. Dann schaute er in die Ferne; zwölf Meilen südwärts lag der Taunus oder Feldberg nahe bey Frankfurth, acht bis neun Meilen westwärts lagen vor ihm die sieben Berge am Rhein, und so fort eine unzählbare Menge weniger berühmter Gebirge; aber nordwestlich lag ein hoher Berg, der mit seiner Spitze dem Giller fast gleich kam; dieser verdeckte Stillingen die Aussicht über die Schaubühne seiner künftigen großen Schicksale.
Hier war der Ort, wo Henrich eine Stunde lang verweilen konnte, ohne sich selbst recht bewußt zu seyn; sein ganzer Geist war Gebeth, inniger Friede, und Liebe gegen den Allmächtigen, der das alles gemacht hatte.
Zuweilen wünschte er auch wohl ein Fürst zu seyn, um eine Stadt auf dieses Gefilde bauen zu können; alsofort stund sie schon da vor seiner Einbildung; auf der Antonius-Kirche hatte er seine Residenz, auf dem Höchsten sah er das Schloß der Stadt, so wie Montalban in den Holzschnitten im Buch von der schönen Melusine; dieses Schloß sollte Henrichsburg heißen, wegen des Namens der Stadt stund er noch immer im Zweifel, doch war ihm der Name Stillingen der schönste. Unter diesen Vorstellungen stieg er auf vom Fürsten zum Könige, und wenn er Aufs Höchste gekommen war, so sah er Zellberg vor sich liegen, und war nichts weiter, als zeitiger Schulmeister daselbst, und so wars ihm dann auch recht, denn er hatte Zeit zu lesen.
Jung-Stilling verlässt das Siegerland - Lebensgeschichte, hrsg. Benrath; Jünglingsjahre S. 183
Den folgenden Ostermontag Morgen, Anno 1762, welches der zwölfte April war, rechnete er mit dem Schöffen Keylhof ab. Er bekam noch etwas über vier Reichsthaler. Dieses Geld nahm er zu sich, gieng auf die Kammer, that seine drey zerlappte Hemden, das vierte hatte er an, ein Paar alte Strümpfe, eine Schlafkappe, seine Scheer und Fingerhut, in einen Reisesack, zog darauf seine Kleider an, die aus ein Paar mittelmäßig guten Schuhen, schwarzen wollenen Strümpfen, ledernen Hosen, schwarzen tuchenen Westen, einem ziemlich guten braunen Rock von schlechtem Tuch, und einem großen Hut nach der damaligen Mode, bestunden. Nun kämmte er sein fadenrechtes braunes Haar, nahm seinen langen dornenen Stock in die Hand, und wanderte auf Salen zu, wo er sich einen Reisepaß besorgte, und zu einem Thor heraus gieng, das gegen Nordwesten stehet. Er gerieth auf eine Landstraße; ohne zu wissen, wohin sie führte, folgte er derselben, und sie brachte ihn am Abend in einen Flecken, welcher an der Gränze des Salenschen Landes liegt.
Hier kehrte er in einem Wirthshaus ein, und schrieb einen Brief an seinen Vater nach Leindorf, in welchem er zärtlich Abschied von ihm nahm, und ihm versprach, sobald er sich irgendwo niederlassen würde, alles umständlich zu schreiben. [...]
Des andern Morgens, nachdem er Caffee getrunken, und ein Frühstück genommen hatte, empfahl er sich Gott, und setzte seinen Stab wieter; es war aber so nebelig, daß er kaum einige Schritte vor sich hin sehen konnte; da er nun auf eine große Heide kam, wo viele Wege neben einander her giengen, so folgte er immer demjenigen, welcher ihm am gebahntesten schien. Als sich nun zwischen zehn und elf Uhr der Nebel vertheilte, und die Sonne durchbrach; so fand er, daß sein Weg gegen Morgen gieng. Er erschrak herzlich, wanderte noch ein wenig fort, bis auf eine Anhöhe, da sah er nun den Flecken wieder nahe vor sich, in welchem er über Nacht geschlafen hatte. Er kehrte wieder um; und da nun der Himmel heiter war, so fand er die große Heerstraße, die ihn binnen einer Stunde auf eine große Höhe führte.
Hier setzte er sich auf einen grünen Rasen, und schaute gegen Südosten. Da sah er nun in der Ferne das alte Geisenberger Schloß, den Giller, den Höchsten Hügel und andere gewohnte Gegenden mehr. Ein tiefer Seufzer stieg ihm in der Brust auf, Thränen flossen ihm die Wangen herunter, er zog seine Tafel heraus und schrieb: Noch einmal blickt mein mattes Auge, [...]
Nun stund Stilling auf, trocknete seine Thränen ab, nahm seinen Stab in die Hand, den Reisesack auf den Rücken, und wanderte über die Höhe ins Thal hinunter.
Jung-Stilling schreibt an seine Tochter Tochter Amalie in Mannheim - MÜLLER: Wenn die Seele geadel ist, Nr. 59, S. 155-157
Carlsruhe, den 8. Juli 1813 Mein liebes Herzens-Malchen!
Wenn Ihr Lieben Eure Reise von Mainz bis Köln den Rhein hinab macht, so ist das der kürzeste, angenhemste und wohlfeilste Weg, aber er ist wegen der Douaniers (Zöllner) überall verdrießlich. Auf diesem ganzen Weg habe ich keine Freunde; auch von Köln bis Elberfeld habe ich keine.
In Elberfeld besucht ihr den Herrn Lederhändler Ball, diesen grüßt freundlich, auch seinen Schwiegervater, den Herrn Pelser, wenn er noch lebt. Herr Ball wird Euch dann mit meinen Freunden bekannt machen; eine Stunde von Elberfeld auf der Gemarke in Barmen wohnt seine Schwester, die Demoiselle Ball, meine vieljährige fromme Correspondentin. Von meinen ehemaligen Freunden und Bekannten leben wenige mehr, denn ich bin fünfunddreißig Jahre von da weg. Anderthalb Stunden von Elberfeld südwärts über einen ziemlich hohen Berg reist ihr nach Ronsdorf, besucht da meinen Schwager, Herrn Abraham Heyder; der wird sich sehr freuen. Dann wohnt auch seine Schwester da, die einen Buchbinder hat. Zwei Stunden weiter zu Lennep lebt meine Schwiegermutter bei meiner Schwägerin, der Witwe von Hagen. Von da eine Stunde weiter an der Krähwinkler Brücke wohnen meine ehemaligen Eleven, die Herren Flender (Spaniers Söhne). Ob es aber der Mühe lohnen wird, das weiß ich nicht; denn ich weiß nicht, wie die Herren gesinnt sind. In Radevormwald, wo der selige Johann Jacob Becker (Meister Isaak) wohnte, ist niemand mehr von ihm.
Wenn Ihr zu Lande nach Elberfeld reist, so fahrt Ihr von Frankfurt oder Mainz über den Westerwald nach Elberfeld, so kommt Ihr an keinen Ort, wo ich Bekannte habe.
Von Elberfeld werdet Ihr durch Siegerland über Wittgenstein, Marburg usw. nach Hause reisen. Dann reist Ihr von Elberfeld das Tal hinauf nach Schwelm, wo ein Rauschenbusch Rektor ist. Von da an nach dem Tollen Anschlag, wo ich sieben Jahre lang oft und viel im Asbeckschen Haus logiert und Eisen gekauft habe. Ob noch die Familie da ist, das weiß ich nicht. Von da nach Meinerzhagen, wo niemand mehr ist, den ich kenne. Dann geht’s durch das Sauerland sechs Stunden weit bis Krombach, welches der erste Ort im Siegerland ist. Eine halbe Stunde das Tal hinauf liegt Littfeld, wo mein seliger Onkel, der Oberbergmeister Jung (Joh. Stilling) wohnte; ob seine Tochter Bücking noch lebt, und wer noch von seinen Nachkommen da ist, das werdet Ihr da erfahren. Mein einziger Halbbruder, ein armer Bergmann, und meine selige Tante Marie Elisabeth (Mariechen Stilling) wohnte auch da, ihr Mann besuchte uns ehmals in Dexbach.
Von Littfeld geht ihr nach Kredenbach, wo mein Vater so lange gewohnt hat und noch meine drei armen Schwestern wohnen. Wenn Ihr nun Klafeld (Kleefeld), Dreisbach (Preisingen), auch die Stadt Siegen besuchen wolltet, so müßt Ihr noch zwei Tage zusetzen; allein an allen diesen Orten ist kein Mensch mehr, den ich kenne, folglich kann ich Euch keine nennen, an welchen Ihr Euch wenden könntet; alle meine Jugendfreunde waren viel älter als ich und sind alle tot.
Ich rate Euch also, von Kredenbach das schöne Tal hinaufzugehen. Über Hillnhütten, das schöne Stift Keppel, wo ich oft als Schulknabe in die Kirche ging, und wo der Muzelius im ‘Florentin von Fahlendorn’ Pfarrer war, und über Allenbach, wo ich von meinem siebten bis ins zehnte Jahr bei meinem Vater, der da so lange Schulmeister war, lebte und von da alle Morgen nach Hilchenbach in die lateinische Schule ging. Auf dem nämlichen Wege geht Ihr auch nach Hilchenbach (Florenburg), wo ich auch keinen Menschen mehr kenne, Euch also auch niemand empfehlen kann. Von da nehmt Ihr einen Boten, der Euch nach meinem Geburtsort eine Stunde weit, ‘im Grund’ genannt (Tiefenbach), führt. Randbemerkung: In Hilchenbach geht doch auf den Kirchhof; dort ruhen meine Vorfahren: an der Südseite der Kirche etwa zehn Schritte von der Kirchtür mein Großvater Eberhard, weiter hinauf ungefähr (?) von der Ecke (?) des Kirchturms (?) südwärts meine Mutter Dortchen. Dort (im Grund) werden sich meine Verwandte, des Oheims Simon Söhne und Nachkommen, bald finden lassen; er hieß Simon Irle, und diese können Euch hernach alles zeigen und auch mit Euch auf das Geisenberger Schloß, eigentlich heißt es Ginsberg, steigen. Ihr tut wohl, daß Ihr diesen Berg besteigt, wenn Ihr aus dem Grund weg nach der Lützel (Zellberg) geht; Ihr erspart Euch dann die Mühe, auch noch aus dem Grund den hohen Berg hinan oder den Giller zu besteigen. Vom Geisenberg geht Ihr südostwärts durch eine kleine Bergschlucht auf das Viehhöfer Feld und gerade vorwärts zwischen dem Gillerkopf rechts und dem Gänsgesberg, welches der höchste Gipfel des ganzen Gebirges ist, links nach der Lützel, wo ich zuerst den Homer las; dort ist auch kein Mensch mehr, den ich kenne. Dann geht Ihr auf Erndtebrück, eigentlich Irmgartebrück, nach Wittgenstein usw. Der Engel des Herrn begleite Euch; Er, der Allerhöchste, segne Eure Reise und bringe Euch gesund und vergnügt in unsere Arme wieder zurück! Dein Dich herzlich liebender Großvater Jung Stilling
Geschichte / des / Nassau=Siegenschen / Stahl= und Eisengewerbes. 1777 - Bemerkungen der Kuhrpfälzischen physikalisch=ökonomischen Gesellschaft, vom Jahre 1777. Lautern, im Verlage der Gesellschaft. 1779
Das Fürstenthum Nassau=Siegen, liegt unter dem ein und fünfzigsten Grade nördlicher Breite: es hat gegen Mitternacht das Kurköllnische oder eigentliche sogenannte Westphalen, gegen Morgen die Grafschaften Wittgenstein, gegen Mittag das Fürstenthum Nassau =Dillenburg, gegen Abend aber die Grafschaft Sayn zu Nachbarn. Alle die umliegenden Länder tragen zum Eisen= und Stahlgewerbe des Sigerlandes das Ihrige mit bei. Die Wittgensteinischen Grafschaften haben sehr vieles Hochgewäld, und verschaffen daher eine grose Menge Kohlen. Der obere Theil von Westphalen ist gleichfalls reich an Kohlen, der untere Theil aber nicht, doch wohnet hier eine grose Menge Fuhrleute, welche das Eisen und Stahl aus dem Siegerlande in die benachbarten Provinzen fahren, allwo es weiter verarbeitet wird.
Das Siegerland gehöret dem Prinzen von Oranien, Erbstatthalter der vereinigten Niederlande, welchem Durchlauchtigsten Hause dasselbe vor etwa vierzig Jahren durch Erbschaft zugefallen ist. Vom Wittgensteinischen bis ans Saynsche mag es etwa vier und eine halbe Meile lang, vom Westphälischen bis ans Dillenburgische aber beinahe zwei Meilen breit seyn. Oben, wo es an das Wittgensteinische stößt, wird es von dieser Grafschaft durch ein hohes Gebirge, welches von Mitternacht gegen Mittag streicht, abgesondert. Ich habe wohl in alten Karten in diesen Gegenden den Namen der Rohrhauer Berg gefunden, wodurch ohne Zweifel dieses Gebirg angedeutet wird. Allein dieser Nahme ist daselbst völlig unbekannt, man weis daselbst von keinem allgemeinen Namen, sondern ein jeder Theil wird von den Bauern und Kohlenbrennern genennt, so, wie er es von seinen Voreltern gehöret hat. Das vornehmste Gebirg ist der Giller, und da ich der erste Schriftsteller meines Vatterlandes bin, so will ich meinen Nachfolgern die Bahne brechen, und das ganze Gebirg mit diesem Namen belegen.
Drei Flüsse entspringen aus diesem Nassauischen Gotthard, die Eder gegen Morgen, die fließt durch die ganze Landgrafschaft Hessenkassel, und fällt unweit Kassel in die Weser. Gegen Mittag entspringt die Lahn, welche südostwärts bis Marburg fortströmt, daselbst aber sich herumlenkt, und Wezlar, Limburg und Diez vorbei fließt, bei Lahnstein aber in den Rhein fällt. Die Sieg entspringt westwärts am Giller, fließt in dieser Richtung fort, und kommt ebenfalls oberhalb Siegburg in den Rhein.
Der Giller mit seinen anhangenden Bergen enthält keine Mineralien, wenigstens hat man noch keine entdeckt. Er trägt lauter Hochgewäld, das aus Eichen und Buchen bestehet, und hier ist eben die Quelle der Holzkohlen, aus welcher zum wenigsten die Herrschaftliche Stahl= und Eisenfabrike versorgt wird. Es ist aber allhier ein gewisser Strich Landes, der Nordostwärts aus Westphalen heraus kommt, und sich Südwestwärts bis in die Grafschaft Hachenburg erstrecket. In diesem Striche befinden sich alle ergiebige Bergwerke, welche das so beträchtliche Stahl= und Eisengewerb des Siegerlandes ausmachen. Der Fleis und die Industrie der Einwohner, nebst den herrlichen Producten ihres Landes zusammen gerechnet, lässt vermuthen, daß dieses Gewerb von groser Wichtigkeit seyn müsse, und es ist auch würklich an dem, wie aus dem Verfolge erhellen wird. So klein auch der Distrikt ist, welcher diese Metalle enthält, so zählet man doch achtzehen reiche Eisengruben daselbst, ohne diejenigen, welche bald viel, bald wenig, bald nichts ausliefern. Desgleichen übergehe ich auch die beträchtlichen Silber= Kupfer= und Bleigruben, weil sie nur partikulare Gewerbe ausmachen.
Man theilet überhaupt im Siegerlande die Eisenbergwerke in zwei Hauptgattungen, in Stahlgruben, und in Eisengruben. […]
Von den Westphälischen Grenzen an erhebt sich gegen Südwest ein aus der Maßen hoher Berg, der an Höhe dem Giller nachkommt, und etwa zwei Stunden westwärts von demselben entfernt ist. Dieser Berg heißt die Martinshaard, er hängt nur an der Nordseite mit den Westphälischen Gebirgen zusammen, an den übrigen drei Seiten ist er ganz frei. Gegen Morgen ist das Dorf Müsen, welches voller Bergleute wohnet, eine Kirche, zwei Stahlhütten, eine Silberhütte, und eine Kupferhütte hat. Traurig ist es, daß dieses Dorf so viele Wittwen und Waisen enthält, weil so oft Männer bei ihrer gefährlichen Handthierung verunglücken. [...]
Das Land ist sehr arm: warum? man leget den Einwohnern Abgaben auf, die sie nicht erschwingen können, und die Summe der Erwerbungen schränkt man auf diese Weise so ein, daß ein jeder kümmerlich so eben sein Brod hat. Die Regierung siehet dieses ein, und suchet deswegen auf alle nur mögliche Weise die Bevölkerung zu hindern!!! Man bemerke diese Politik!!! Zwei Verliebte dürfen sich nie ohne obrigkeitliche Erlaubnis heurathen, weil ein jedes zuvor anzeigen muß, ob auch Vermögen genug da sei, sich zu nähren, fehlet dieses, so werden sie ohne Erlaubnis zu heurathen, nach Hause gewiesen. Man findet wenig Länder, wo die Anzahl unehlicher Kinder verhältnismäßig gröser sei, als hier, und das ist gar kein Wunder. Dieses zu hindern, hat man Geseze und Strafen geschärfet, aber wie leicht zu denken, ohne den mindesten Nuzen. Wenn eine Leidenschaft herrscht, so schrecket keine Strafe mehr. Glückselig der Staat! dessen Geseze die Leidenschaften der Menschen zu ihrem Glücke zu leiten wissen. Sehr selten darf man im Siegerlande ein neues Haus euf eine neue Stelle bauen, dazu gehören triftige Gründe. Mit einem Worte, man hindert die Bevölkerung auf alle nur mögliche Weise! [...] Das Fürstenthum Nassau=Siegen gränzt nordwärts an das Kurköllnische Herzogthum Westphalen, oder so genannt Sauerland; dieser Distrikt wird aber nordwestwärts so schmal, daß sich die Grafschaft Mark auf vier Stunden nah heran drängt. In diesem Theile dieser Grafschaft liegen die Osemundhämmer, etwa zwanzig umher verstreuet. Die Gegend ist äuserst bergicht, […]
Staatswirthschaftliche Anmerkungen bei Gelegenheit der Holznüzung des Siegerlandes (1775) - Bemerkungen der Kuhrpfälzischen physikalisch=ökonomischen Gesellschaft, vom Jahre 1775. - Lautern, im Verlage der Gesellschaft. - 1779.
Die nüzlichen Erfahrungen von der Zucht und Vermehrung des Holzes habe ich in meinem Vatterlande in dem Fürstenthume Nassau =Siegen gesammelt. Mein Grosvatter war ein redlicher frommern und rechtschaffener Kohlbrenner, oben im Lande, rechts im Gebirge, nicht weit von der Wittgensteinischen Gränze wohnhaft. Er und seine Söhne waren beständig mit dieser Handthierung beschäftigt, und ich habe Gelegenheit genug erhabt, bis in das zwei und zwanzigste Jahr meines Alters alle Handgriffe und Bearbeitung sowohl des Kohlenbrennens als der Holzzucht genau zu beobachten; ich habe sehr oft selbst Hand mit angelegt, und bin daher der Sache ganz gewiß. Ich hoffe also nicht, daß mir jemand meine Glaubwürdigkeit zweifelhaft zu machen im Stande ist.